„Solidarität“ ist ein Zauberwort der Stunde. Frank Walter Steinmeier, der sich wie es scheint, vom „Agenda 2010“ Hardliner zu emanzipieren vermocht hat, führt es genauso im Munde wie die Kanzlerin. Aber was verbirgt sich dahinter? Wie und zu welchem Zweck wird der Begriff im (sozialpolitischen) Diskurs genutzt? Warum „Börse vor Acht“ eine Form der „Teletubbies“ für Erwachsene darstellt.
Durch Frankfurt zu gehen fällt mir im Moment schwer: die Atmosphäre hat etwas Unwirkliches, Bedrohliches und erinnert mich an die Zeit unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe von „Tschernobyl“. Damals war die „Quarantäne“, so man sie für nötig hielt, „freiwillig“, in meiner Erinnerung beschränkten sich die Vorsichtsmaßnahmen auf die Teile der Bevölkerung, die der Nutzung der Kernenergie skeptisch bis ablehnend gegenüber standen. Nennen wir es die „Szene“: Menschen, die ihre Kinder von den Spielplätzen fernhielten, noch bewusster auf die Herkunft von Nahrungsmitteln achteten und sich in den Cafés und Kneipen des Nordends, Bornheims und anderen Stadtteilen und Gelegenheiten über ihre Befürchtungen und politischen Perspektiven austauschen konnten. Heute geht die Bedrohung nicht von einer Strahlung aus, nicht allein die Gegenstände können kontaminiert sein, sondern die Menschen sind es, die ich meiden sollte. Die Orte der Begegnung und gefüllten Solidarität, mittlerweile auch von den Kindern und Enkeln genutzt, sind gesperrt und damit entfällt diese Möglichkeit der Erfahrung eines „Miteinanders“ welches praktisch in den virtuellen Raum verdrängt wird.
Wenn ich an diesen Orten – denen, die die Zeiten mit mir überstanden haben, jene, die neu dazukamen – vorbei gehe, auf die verschlossen Türen oder die entsprechenden Seiten im Internet schaue, frage ich mich traurig, welcher dieser Orte den momentanen Einbruch des sozialen Lebens wird wirtschaftlich überstehen können. Die Liste derer, die bitten, sie in dieser Situation solidarisch zu unterstützen, wird täglich länger und mit steigender Erkenntnis, dass der Zustand, den wir „Lockdown“ zu nennen lernen, noch länger anhalten wird, steigt die Bedrohlichkeit. Und mit ihr die Gewissheit, dass eine ganze Reihe dieser Teile meiner Lebenswelt nach der Wiedereröffnung des öffentlichen Lebens nicht mehr da sein werden. Auch weil in Abhängigkeit von der Vielzahl der Bedarfe über einen langen Zeitraum auf Grund fehlender persönlicher Ressourcen diese Überlebenshilfe eben im „Crowd-Funding“ in der Summe einfach die individuellen Möglichkeiten übersteigt.
Wie lässt sich „gelebte Solidarität“ realisieren, wie die Bereitschaft, sich solidarisch zu verhalten, sich so zu organisieren, dass sich das „Miteinander“ nicht angesichts der schieren Notwendigkeiten erschöpft. Auch damit diejenigen, die solidarisch handeln – auch von Berufs wegen – nicht nach der Krise ausgebrannt sind – und wir dann eventuell auch noch erkennen müssten, dass die beschworene, die politisch geforderte „Solidarität“ tatsächlich Zielen und Strukturen galt, die dem eigenen Leben, den eigenen Wünschen und Notwendigkeiten fern stehen. Wer meint also „was“, wenn von „Solidarität“ die Rede ist?
Auch ohne die jetzt vorgetragenen Forderungen scheint es ja eine Menge „Solidarität“ in unserer Gesellschaft zu geben: Es waren überwiegend freiwillige Helfer:innen, die 2015 die Geflüchteten Menschen an den Bahnhöfen empfangen haben und oft danach auch weiter versorgten. Menschen machen Krankenpflegeausbildungen, obwohl die Arbeitsbedingungen seit vielen Jahren „unterirdisch“ sind, ohne das Engagement vieler Einzelner gäbe es keine „Tafeln“. Letzteres Beispiel ist auch deshalb interessant, weil – ich meine es war Jens Spahn – die Existenz der Versorgungsmöglichkeit via „Tafel“ als Beleg für die Funktionsfähigkeit des „Sozialstaates“ öffentlich gepriesen wurde. Ohne dass freilich dazu gesagt wurde, dass das schlichte Angewiesensein auf dieses Angebot eben gerade darauf verweist, dass nicht einmal mehr die Sicherung der nackten Existenz von Menschen als grundgesetzlich definiertes Merkmal unserer Gemeinschaft gesehen wird. Außer natürlich von denen, die dies schon immer so sehen. Diese wiederum galten Anderen bislang als „Gutmenschen“. Meinen Spahn und die NGOs dasselbe, wenn von „Solidarität“ die Rede ist?
Nur zur Erinnerung: Jens Spahn, der sich derzeit als „Krisenmanager inszeniert, war eine der politisch treibenden Kräfte was die Schließung von Krankenhäusern angeht, seine Nähe zur Gesundheitsindustrie hat ihm selbst ja auch ein einträgliches Zubrot gebracht. Jens Spahn und eine „Kehrtwende“? Sicher nicht! Jens Spahn inszeniert sich als „Macher“ (ähnlich wie M. Söder), steht aber z.B. den „Lebensschützern“ nahe: Seine Solidarität scheint also eher nicht den Frauen in Konfliktsituationen zu gelten. Auch sein bisheriges Wirken im Gesundheitswesen sehe ich ambivalent: Viel Bewegung, wenig tatsächliche Veränderungen: So ist er nicht alleine dafür verantwortlich, dass alle Bundesregierungen die Pandemieempfehlungen des RKI aus dem Jahre 2012 nicht umgesetzt haben, sein martialisches Auftreten derzeit scheint aber auch seine anfängliche Ignoranz den Frühwarnzeichen im Januar gegenüber verdecken zu sollen (Link zur Bundestagsdrucksache unten; ab S.5).
Bleiben wir noch einen Moment bei der Frage, wem wessen „Solidarität“ gilt. Wir erleben gerade umfängliche Rettungspakete: Bund und Länder schütten umfänglich Geld aus oder geben Kreditgarantien. Zu hören war auch schon, der Ausgleich der Folgen der „Corona-Krise“ könne letztlich so viel kosten, wie die „Deutsche Einheit“, hier gab es Schätzungen von circa 5 Billionen DM, auch wenn die offiziell kommunizierten Kosten weit darunter lagen.
Soloselbstständige und Kleinunternehmer:innen sollen ohne Bedürftigkeitsprüfung in den „ALG II“-Bezug gehen können – besser als „Hartz IV“ bekannt. Mal abgesehen davon, welche Zahlentricks auch die heutige Bundesregierung darauf verwandt hat, die grundgesetzlich verbürgte Möglichkeit der „Teilhabefähigkeit“ künstlich klein zu rechnen und damit auch Millionen von Kinder in der Armutsfalle zu belassen, so berücksichtigt dieser Ansatz die vielen Mini-Jobber, „Aufstocker“ und andere Bedürftige – überwiegend auch obdachlose Menschen nicht.
Sprich: Faktisch wird auch in diesen Zeiten zwischen denen unterschieden, die – „Corona“ wegen – „unverschuldet“ in Not geraten und jenen, die, der dem NS-Jargon entlehnten Wording von Schröder und Müntefering paraphrasiert folgend, „zu faul sind und daher auch nicht essen müssen“ (siehe Quellen unten). Hier gilt die „Solidarität“, wenn auch begrenzt, einer bestimmten Zielgruppe. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie, eben auch durch die von den unterschiedlichen Bundesregierungen beförderten Abwärtsspiralen des „Sozialstaats“ in den Niedriglohnsektor und in „Ich-AGs“ gezwungen wurden, d.h., sie hatten auch nie eine wirkliche Chance, krisenfest zu wirtschaften. Wollten wir tatsächlich den Art. 3 des Grundgesetzes mit Inhalt füllen, bliebe letztlich – zumindest temporär – nur die Einführung eines „Bedingungslosen Grundeinkommen“ (BGE). Weshalb temporär?
Eine solch massive Veränderung auf Zeit zu beschließen, scheint mir deshalb besonders wichtig, weil es in allen zukünftigen Veränderungen – mit dem Weg dorthin wird sich der nächste Text beschäftigen – darum gehen wird, sie breit zu diskutieren und für möglichst viele grundlegende Momente Formen der Konsensfindung jenseits und begleitend der parlamentarischen Form finden müssen – sei es etwa in Form von „Volksabstimmungen“. Ein weitere Grund an dieser Stelle ist, dass ich Bedenken gehört habe, etwa europarechtlicher Natur, die ebenfalls nicht im Rahmen eines „populistischen Move“ vom Tisch gefegt werden dürfen. Also: Jetzt Notfallmanagement notwendigerweise, aber mir klaren Perspektiven für die Zeit danach!
Die auch von Sozialdemokraten betriebene Entsolidarisierung hat, wie oben skizziert, das „Blaming“ der Betroffenen ist also ein Kernelement der bisherigen Herstellung gesellschaftlicher Konkurrenz, ein anderes ist der Disziplinierungseffekt auf Seiten der „Arbeitsplatzbesitzer“: Der soziale Abstieg durch Arbeitsplatzverlust ist eine unglaublich wirksame Drohung – vor allen Dingen auch, wenn man etwa die Schicksale von prekärer Tätigkeit oder Leiharbeit betroffener Menschen dann auch stets vor Augen geführt wird. Ein weiteres Element des „Framing“: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ ist ein nun viele Jahre eingepflegtes Format in der ARD, welches freilich nur symbolhaft für die Legende von der nötigen und möglichen „Fähigkeit zur Übernahme ökonomischer Eigenverantwortung“ steht. Eingefasst zwischen „Wetterbericht“ und „Tagesschau“ wird uns zur „Primetime“ die Börsenentwicklung nahe gebracht:
„Börse vor Acht“ etwa ist ein leicht zynisches Format: Eingepflegt im Rahmen des Börsengangs der „Telekom“, deren Papiere als „Volksaktie“ beworben wurden, flankiert durch den Umbau der Altersversorgung für den die Begriffe „Riesterrente“ und „Pflegeversicherung“ stehen, hat diese Sendung zur „Prime-Time“ das Scheitern das Platzen der „dot.com“-Blase überstanden. Die Börsenprofis benötigen diese Plattform nicht – uns, die wir zumeist kein Geld für Anlagen verfügbar haben signalisieren Anja Kohl und Ko. allabendlich, wie abhängig wir vom Geschehen an den Geldmärkten seien – und wie vergebens unser Bemühen weiterhin sein wird, auskömmlich Vorsorge zu treffen. Hatte Frank Lehmann noch eine gepflegte ironische Distanziertheit auf seiner Seite, regiert heute der „Bierernst“. Wenn es wirklich um Aufklärung wirtschaftlicher Sachverhalte ginge, täte Distanz Not – und es wäre mehr als angebracht, weitere Modelle und Vorstellungen zu vermitteln – genossenschaftliche Ideen, Allmende, Gemeinwohlorientierung. So ist dieses Format Nichts weiter als der „Transmissionsriemen“ für die Menschenfeindlichkeit der Finanzwirtschaft, wie sie in Reinform fast nur noch von Cristian Lindner, F. Merz und Co. bejubelt wird.
Also ergibt sich auch hier ein einfacher Veränderungsmoment für die Programmverantwortlichen der ARD: Mit Rücksicht auf „Werteunion“ und FDP, aber auch weiter Teil der Sozialdemokratie und der GRÜNEN scheint eine sofortige Absetzung dieser Sendung nicht geboten – schon um einen „kalten Entzug“ zu vermeiden. Aber es wäre schnell möglich, weitere Expertise einzupflegen – Themen sind oben genannt. Vielleicht könnte in einem ersten Schritt Ulrike Herrmann mehr oder minder regelmäßig etwas zur „Lebenslüge“ der „Sozialen Marktwirtschaft“ sagen (vgl. den verlinkten Artikel unten).
Die „Teletubbies“, um den anfänglichen Vergleich aufzugreifen, sind im Übrigen abgesetzt worden, weil sich herausgestellt hat, dass die „Sprache“ der Quietschefiguren untereinander negative Effekte auf die Sprachentwicklung der dreijährigen Zuschauer:innen hatte. Was für pädagogisch fragwürdige Formate im Kinderfernsehen gilt, sollten wir doch gegenüber uns „Großen“ umsetzen können – bei der Gelegenheit sollte dann auch über M. Lanz und „Hart aber Fair“ zu sprechen sein – aber dies ist ein anders Kapitel.
„…Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker…“ wurde einst Che Guevara zitiert. Tatsächlich ist die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli die Autorin. Da ich den Ursprungstext nicht kenne, bleibt es hier – wenn ich mich auf die Suche nach „Solidarität“ in Zeiten der Pandemie begebe – bei dem Aufmerken, dass Biografen scheinbar versucht haben, mittels falscher Zitation einem zwischenmenschlich wohl sehr unangenehmen Macho einen Anstrich von „Flower-Power“ zu geben.
Nun, sicher , so der Stand heute, endet die „Solidarität der Völker“ an den EU-Außengrenzen. Robert Habecks weihnachtlicher Vorschlag, umgehend die etwa 4000 Kinder und Jugendlichen aus „Moria“ herauszuholen, ist Ende Februar auf deren 300 Menschen für Deutschland verniedlicht worden – derzeit – so zitiert die „Tagesschau“ vom 29.03.2020 das Innenministerium, wolle man keine weiteren Infektionsgefahren nach Deutschland holen. Zur Erinnerung: Die Rede ist von „besonders schutzbedürftigen Personen“ im Sinne der Menschen- und Kinderschutzkonventionen, die auch die „Bundesrepublik“ gezeichnet hat.
Doch wir müssen, wenn wir von „Solidarität“ als Menschenrecht auch gegenüber „Fremden“ sprechen, ja nicht bis an die EU-Außengrenzen gehen:
Unter uns leben Menschen in „Sammellagern“, „Ankerzentren“ und anderen unwirtlichen Orten, weil der Asyl- oder „Flüchtlingsstatus“ sie dort festhält. In den Diskussionen auf politischer Ebene scheinen diese Menschen nicht vorzukommen. Man hat sie kaserniert, sie vegetieren in umzäunten Arealen vor sich hin, zur Untätigkeit verurteilt, Enge, Lärm und Gewalt ausgeliefert. Letztere ist eine erwartbare Folge der „Käfighaltung“ und teilweise auch eine Folge der Bewachungssituation und des Ausgeliefertseins an undurchsichtige „Helferstrukturen. Dies ist schon im „Regelalltag“ bedrückend und kaum zu ertragen, da diese Menschen ja vor Gewalt und Willkür geflohen sind – und auch hofften, den Lagern der jeweiligen Despoten in den Herkunftsländern zu entgehen. Doppelt schwer wiegen jetzt die Quarantänemaßnahmen, eben auch unter den beengten räumlichen und schwierigen hygienischen Bedingungen in vielen dieser Unterkünfte.
Nun, könnte man aber auch sagen – mit der Umsetzung von international verbürgten Schutzzielen hatte es dieses Land ja nie besonders eilig. Wie das Gezerre um die Verankerung des Kinderschutzes im Grundgesetz zeigt, wie der weitgehende Stillstand bei Bemühungen um die vollständige Teilhabe von Menschen mit Handikaps auf Basis der „UN-Behindertenkonvention“ ausweist, besteht schon im Binnenverhältnis den eigene Bürgern gegenüber – einmal sanftmütig formuliert: ein gewisser Verbesserungsbedarf. Schauen wir auf den Kinderschutz insgesamt, die Ausstattung der Jugendämter, die Finanzierung der Jugendhilfe und der Refugien für Menschen wie etwa die Frauenhäuser, sind wir insgesamt weit von ausreichenden Standards entfernt. Warum ist das so? Weil über viele Jahre hinweg jene, die jetzt auf der politischen Bühne „Solidarität“ einfordern, behaupten, ein den vielen Ansprüchen genügender Sozialstaat wäre nicht zu finanzieren. So werden die Gruppen der Anspruchsteller:innen gegeneinander ausgespielt. Dies entsolidarisiert die dergestalt Marginalisierten: Jene, die ein wenig bekommen müssen befürchten, dieses Anteils auch noch verlustig zu gehen, wenn sie gemeinsam mit anderen aufbegehren. Wie desinteressiert das politische Gemeinwesen sich verhält, kann man leicht am Umgang mit den Betroffenen nach dem „Runden Tisch Heimerziehung“ oder dem Langmut gegenüber den Kirchen, was die Entschädigungsansprüche der Menschen mit den vielfach dokumentierten Gewaltfolgen angeht, ablesen.
Ein Zwischenfazit: „Solidarität“ ist keine einheitlich gebrauchte „Ware“ – je nach Perspektive wird sie unterschiedlich realisiert:
Im Zwischenmenschlichen gibt es sie häufiger als die Bilder der Konkurrenzgesellschaft, zu der wir in Schule, Ausbildung und an Arbeitsstätten angehalten werden, nahelegen würde. Allerdings erschöpft sich diese, wie in den Zeiten nach der Versorgung der geflüchteten Menschen im Jahr 2015 gesehen, weil im Ehrenamt letztlich die Ressourcen fehlen.
Im politischen Diskurs ist der Begriff bisher dazu überwiegend genutzt worden, um zu verschleiern, das staatliche Aufgaben auf Ehrenamtsstrukturen umgeleitet wurden, oder um, etwa in Tarifauseinandersetzungen, Formen des „Lohndumpings“ zu legitimieren. In der Unternehmens- und Steuergesetzgebung wurde behauptet, die Interessen der „Wirtschaft“ seien deckungsgleich mit denen der breiten Bevölkerung, respektive letztere sei in der Pflicht – teilweise durch kollektiven Verzicht – dies mitzutragen.
Wir erleben, dass es „Solidaritätsberechtigte“ unterschiedlicher Art gibt – entlang der bisherigen Ausgrenzungs- und Zwangsstrategie gegenüber arbeitslosen Menschen (Stichwort: Fördern und Fordern), werden die Ausgrenzungsmuster auch auf andere marginalisierte Gruppen angewandt bzw. verschärfen sich diese Muster in der „Coronakrise“ noch. Ein Beleg findet sich auch in einem Urteil aus Konstanz zu „Hartz IV“ im Anhang.
Die Forderung nach „Solidarität“ ist eine zwiespältige: Zum einen gibt es – und dies ja nicht unberechtigt – grundsätzliche Zweifel an der Bindungswirkung des „sozialen Firnis“. In einer Gesellschaft die schon im Kindergarten mit einer Erziehung zur Konkurrenz beginnt und diese bis in die Sozialversicherungssysteme fortsetzt, ist dies kein Wunder. Deshalb wir „Solidarität“ im öffentlichen Raum ja auch durch die Polizei durchgesetzt und Verstöße geahndet (siehe auch den Beitrag zu Julia Zeh der im Anhang verlinkt ist; ein ausführlicheres Interview mit ihr war am 04.04.2020 in der SZ). Darüber hinaus erfüllt mich die Art und Weise mit Sorge, wie, mit welcher Geschwindigkeit und mit welcher Haltung der Bundestag, aber auch zumindest ein Länderparlament die Grundrechte in Frage stellen. Weder werden parlamentarische Überprüfungsmechanismen verbindlich vereinbart, noch wird eine verfassungsrechtlich ausreichende rechtliche Grundlage geschaffen – die Aktivierung der „Notstandsgesetzgebung“ scheut man aus verfassungsrechtlichen Bedenken heraus. Auch wenn in Deutschland keine Situation wie in Ungarn, Österreich oder Frankreich zu sehen ist, in denen die „Coronakrise“ genutzt wird, parlamentarische und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse durch „Dekrete“ zu ersetzen: Auch in Deutschland sind Menschen in politischer Verantwortung bei denen ich vermute, der demokratische Firnis ist „dünn“. Dazu zählen neben Horst Seehofer und Markus Söder auch Jens Spahn, Strobl, B. Rhein, B. Palmer und andere. Eine Erfahrung mit dem, was er gesellschaftliche Folgen einer katastrophengestützten „shock doctrine“ nennt, beschreibt Naomi Klein in dem im Anhang verlinkten Beitrag aus „The Guardian“.
Nun sollen die vorgestellten Überlegungen nicht solidarisches Handeln diskreditieren – es ging hier nur darum, die Ambivalenz dessen zu beschreiben, was entsteht, wenn „Solidarität“ politisch gefordert wird, Segregationsmechanismen nicht aufhebt, sondern verstärkt – und ordnungsrechtlich durchgesetzt werden, weil man dem sozialen Zusammenhang – nachvollziehbar – doch nicht traut.
Mit der Frage nach einer möglichen politischen Strategie gegenüber den zu erwartenden Dynamiken nach Ende der jetzigen Krise, möchte ich mich in einem nächsten Beitrag beschäftigen. Aus meiner Sicht sollten wir aber die Zeit jetzt nutzen denn, abwarten allein hilft nicht – um Wolf Biermann zu zitieren:
Manche hoffen, dass des Flusses
Wasser nicht mehr fließen kann
Doch im Frühjahr, wenn das Eis taut
fängt es erst richtig an
Manche wollen diese Zeiten
wie den Winter überstehn
Doch wir müssen Schwierigkeiten
Bestehn! Bestehn! Bestehn
(Aus: Warte nicht auf bess´re Zeiten, Die Drahtharfe, 1965)
https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712051.pdf
https://www.tagesspiegel.de/politik/debatte-um-arbeitslose-kein-recht-auf-faulheit/217442.html