Bücherverbrennung – revisited

Klinische Psychologie in Frankfurt – oder wie macht man einen Fachbereich wieder „arisch“ – methodenkorrekt, selbstverständlich!

Die „taz“ hat es berichtet, die „Frankfurter Rundschau“, die „FAZ“ haben sich der Sache angenommen: Die verbliebene psychoanalytische Professur im Fachbereich Psychologie in Frankfurt soll nächstes Jahr neu besetzt werden – die Ausschreibung erfolgt „verfahrensoffen“. Frankfurt – Du machst mir bange!

Natürlich laufen die „üblichen Verdächtigen“ Sturm, verweisen darauf, dass die Psychoanalyse quasi zur DNA Frankfurter Geisteslebens gehört: Das „Institut für Sozialforschung“ wird regelhaft zitiert, selten fehlt der Verweis auf das segensreiche Wirken Alexander Mitscherlichs.

Mit Mitscherlich – besser der Kooperation mit dem von Margarethe und Alexander Mitscherlich gegründeten „Sigmund-Freud-Institut“ – versucht der derzeitige Prodekan des Psychologischen Institutes, Christian Fiebach, die Wogen zu beruhigen. Nichts läge ferner als die Unterstellung einer „Abschaffung der Psychoanalyse“ im akademischen  Kanon. Vielmehr zwängen die Bedingungen des „Klinischen Masters“, dieser nun wieder eine Folge des „Psychotherapeutengesetzes“ dazu, den Fachbereich quasi „methodenplural“ auszurichten.

To be honest: Ich bin glücklich in einer Zeit in Frankfurt studiert zu haben, in denen besagte „Psychoanalytische DNA“ noch wirksam war: Psychoanalyse in Frankfurt war – in meiner Erfahrung – mehr als ein Verweis auf Adorno  und Mitscherlich: Argelander, Peter Kutter, Alfred Lorenzer – und in meinem Fall besonders wichtig: Christa Rohde-Dachser – haben klinisch und sozialwissenschaftlich wichtige Impulse gesetzt.

Soweit also alles wie erwartbar: Ein neoliberal getriebener Hochschulbetrieb gegen eine „kritische Gegenöffentlichkeit“ – wobei in der Regel – aus Gründen der Finanzierung von „Exzellenz-Clustern“ – ersterer gewinnt.

Mich stört diese Verkürzung und dies möchte ich kurz erläutern:

Der „Campus Westend“ befindet sich heute – viele werden es wissen – auf dem Gelände der ehemaligen „IG Farben“. Die Universität schien sich zur „NS“-Geschichte der Bauten nicht verhalten zu wollen, es war der AStA – oder über die Jahre: die jeweiligen ASten – , die eine Form der „Erinnerungskultur“ erzwungen haben, etwa hinsichtlich des „Wollheim“-Memorials. Auch der Umgang der JWG-Universität mit der „Forschungsstelle NS-Pädagogik“ spricht hier Bände.

Nun, hierin hat die Universität eine unselige Tradition: Was selten erzählt wird ist, dass das Land Hessen für Mitscherlich eine Stiftungsprofessur am Fachbereich Medizin in Frankfurt finanzieren wollte – die der Fachbereich abgelehnt hat. Man wolle lieber in „Humangenetik“ investieren. Nachvollziehbar: Aus dem „Kaiser-Wilhelm-Institut“ war die „Max-Planck-Gesellschaft“ geworden, aus „Rassebiologie“ und „Eugenik“ eben „Humangenetik“. Man konnte alle die Präparate, die etwa Mengele als ehemaliger Frankfurter Doktorand aus Ausschwitz überlassen hatte, weiterverwenden…Da war für einen „Stänkerer“ wie Mitscherlich kein Bedarf. Über den Umweg nach Gießen kam A. Mitscherlich dann doch noch nach Frankfurt – und wenn sie nicht gestorben sind…

Aber: Hat der Fachbereich nicht recht, wenn es also um die rein „klinische Ausrichtung“ geht? Ein Narr, wer dabei Böses denke?

Insight Views

Let´s talk about „psychology“: und dies tue ich als „Klinischer Psychologe“ – sozusagen „alter Schule“: Man darf sich schon fragen, wann der „akademischen Psychologie“ der Gegenstand ihres Interesses aus dem Blick geriet. In Worten eines psychoanalytischen Kollegen zu Beginn meines Studiums in Frankfurt: “…Würden sich die Psychologen jemals mit dem Gegenstand ihrer Wissenschaft beschäftigen – sie würden glatt verrückt. Ergo sei die Beschäftigung mit Statistik, die Fixierung auf Taschenrechner als im Dienste der Abwehr geschehend zu betrachten…“.

Entsprechend die Studieninhalte: Viel Methoden, keine Schnittstellen zu den Sozialwissenschaften, etwa der Anthropologie, der Philosophie. Stattdessen das „Gespurt-werden“ in einem Denksystem, welches einen hohen Selektionsdruck ausübte, auf ein nicht hinterfragbares „Wissenschaftsmodell“. Pierre Bourdieu spricht von einem „Habitus“, aus dem heraus sich eine „soziale Praxeologie“ entwickelt – doch dazu gleich. Wobei der Druck zum „Bulimielernen“ auf die Studierenden eigentlich nicht extra initiiert werden musste – war mensch als Studierende als „NC-Monster“ schon aus schulischen Zeiten auf messbaren Lernerfolg verpflichtet.

Die Psychoanalyse galt als „Schmuddelecke“: Wer im Fachbereich (zu dieser Zeit ca. 70 Studierende) als „psychoanalyseaffin“ galt, konnte sicher sein in der Diplomprüfung in „Klinische Psychologie“ durchzufallen. Beim zweiten Versuch bekam man dann den „Zweitprüfer“ der aus der Psychopharmakologie kam, sich aber seiner Rolle als „Tröster“ zumindest bewusst war. Mit der Überarbeitung der Prüfungsordnung Anfang der 1990er Jahre ist die Psychoanalyse als Prüfungsfach mit aller Macht aus dem Fächerkanon herausgeschrieben worden – zugunsten weiter empirischer Scheine.

Warum ist das so – und weshalb erfährt die Psychoanalyse an der Frankfurter Universität nun so etwas wie den „finalen Todesstoß“ in der „Klinischen Psychologie“ – respektive in dem akademischen Universum, welches sich diesen Titel selbst verleiht?

Das was wir heute „Psychologie“ nennen war ja eigentlich eher Gegenstand der Philosophie – erst über die „Psychophysik“ etwa Wundts oder Fechners entstand eine eigentlicher „Fachbereich“. Der allerdings in den 20er Jahren noch heftig um seine Relevanz stritt: In Abgrenzung zur „spekulativen“ Philosophie, beschreibenden / individuumszentrierten Forschungsmodellen und der Psychiatrie.

Ja, es scheint sie gegeben zu haben: Eine lebendige, kluge, nachfragende und ideenoffene deutsche Psychologie. Verkörpert wird sie durch Namen wie Dilthey, Charlotte Bühler, Wilhelm Stern, Lewin, Kofka, Köhler, Marbe, Wertheimer – um nur einige zu nennen – auch für Frankfurt: Frankfurt ist hier aus zwei Gründen besonders zu nennen: Als „Stiftungsuniversität“ steckte viel Kapital jüdischer Bürger*innen in Universitätsgründung und -gelingen, zum zweiten war Frankfurt – neben Wien und Berlin – ein wichtiger „Hotspot“ der psychoanalytischen Bewegung. Und – der Vollständigkeit wegen sei es erwähnt: In der Stiftungsurkunde war hinterlegt, dass es keinen religiösen Proporz bei der Besetzung von Professuren geben dürfe, was natürlich auch die Berufung jüdischer Wissenschaftler*innen erleichterte.

Zumindest bis Mitte der zwanziger Jahre scheinen sich also zwei Strömungen in Deutschland etwa die Waage zu halten. Nach dem Tod Wilhelm Wundt werden allerdings andere Kräfte stärker: Hier wird aus eugenischer Perspektive formuliert, werden Ideen einer „Völker-„ und „Rassepsychologie“ stark gemacht. Parallel hierzu geht die amerikanische Psychologie einen dezidiert „naturwissenschaftlichen“ Weg: William James, der als „Gründervater“ des psychologischen Instituts in Harvard gilt, war ursprünglich als Assistent bei Wundt in Leipzig gewesen, lehnte aber die in seinen Augen „spekulative“ Perspektive der von ihm als „deutsch“ wahrgenommen Herangehensweise an das „Objekt der Wissenschaft“ ab. Hier entwickelt sich also eine eigenständige Wissenschaftstradition in der Psychologie, die sich dann auch stark auf verhaltenswissenschaftliche Aspekte stützte.

Mit Unterwerfung des deutschen Universitätsbetriebs unter die nationalsozialistische Wissenschaftsdiktion, wurden die Inhalte um „jüdische Lehre“ bereinigt – und auch die Fakultäten: die erzwungene Emigrationswelle hinterließ verwaiste Institute, die mit „linientreuen“ Vasallen besetzt wurden – hier entstand auch das „Fachgebiet Wehrpsychologie“, welches auch ein Versuch war, den nationalsozialistischen Herrschaften den Erhalt psychologischer Institute „schmackhaft“ zu machen.

Der völkisch-nationalkonservative Flügel hatte sich also durchgesetzt. In dieser Diktion erstand auch die erste Diplomprüfungsordnung, die 1940 in Leipzig eingeführt wurde um nach 1945 – hakenkreuzbereinigt – zur Mustervorlage für alle psychologischen Universitätsinstitute zu werden, eine Tradition, die erst in den 1970er Jahre durch neue Diplomprüfungsordnungen gebrochen wurde.

So stand die deutsche Psychologie bei Kriegsende – ähnliche der Medizin und Psychiatrie – mit wissenschaftlich „leeren Händen“, aber „altem braunen“ Personal da. Zur „Entnazifizerung“ von Instituten und Personal war es daher hilfreich, sich ohne Wenn-und-Aber auf die amerikanische Linie einzuschwören: Ein guter Verhaltenspsychologe konnte ja kein Nazi sein!

Dies konnte umso leichter fallen, als etwa Skinners Vorstellungen faschistoide Züge hatten, ein Großteil der psychometrischen Verfahren auf rassistischen Normzuschreibungen beruhen und beruhten und man die anitisemitischen und rassistischen Positionen wichtiger Stichwortgeber*innen – etwa Eysenck – ausklammerte. Hierbei ging dann auch „unter“, dass grundlegende Paradigmen, etwa bei Watson, methodologisch auf unzureichenden Grundlagen beruhten. All dies wurde auch weder in den Lehrbüchern der Grundlagenfächer thematisiert noch in solchen der „Klinischen Psychologie“.

Wir sehen also ein System, in das junge Menschen eintreten, die durch die Hochschulzugangsbedingungen überwiegend gezwungen sind, mit sturem „Auswendiglernen“ maximal gute Noten zu erreichen. Das gleichermaßen verschulte System: „Studium der Psychologie“, erzwingt durch hohen Leistungsdruck maximale Anpassung an Studienorganisation und – inhalte. Zwischenprüfungen dienen als Initationsrituale, in denen es auch stark darum geht, zu überprüfen, ob die Studierenden sich dem Denken und den Sprachregelungen des Fachbereichs mehr oder minder vorbehaltlos unterwerfen. Dieses Denken wiederum zeichnet sich dadurch aus, dass es auf Paradigmen beruht, die nachweislich falsch, menschenverachtend oder veraltet sind. Hier entsteht das, was Bourdieu als „Habitus“ bezeichnet: Ein Set an Vorannahmen, Wahrnehmungs- und Handlungsbeschränkungen, die das jeweilige in diesen Status vermittelte Individuum daran hindern, die Grundlagen dieser Vorannahmen kritisch zu hinterfragen – einen Perspektivwechsel vorzunehmen.

Die Errichtung psychoanalytischer Lehrstühle an den psychologischen Fakultäten, die Verankerung der Psychoanalyse in den Prüfungsordnungen hat zumindest einigen Studierenden über Jahrzehnte die Möglichkeit gegeben, diesen Perspektivwechsel als Teile einer wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung- wie er ja auch bei Heisenberg oder Devereux angelegt ist – vorzunehmen. Mit den Veränderungen der Prüfungsordnung hat die Johann Wolfgang-Goethe-Universität vor Jahren schon die Axt an den Erkenntnisgewinnungsprozess gelegt: Statt der Psychoanalyse wurde in der Prüfungsordnung der 1990er Jahre bereits der Empirie der Vorrang eingeräumt. Die Zahl der psychoanalytischen Professuren wurde – bis auf die durch Herrn Habermas besetzte – eingespart. Damit wurde den Verhaltenswissenschaften klar ein Vorrang eingeräumt – nicht nur in Frankfurt!

Dieser Ausschluss setzte sich im Übrigen bei der Zulassung der sogenannten „Richtlinienverfahren“ im Übergang zum „Psychotherapeutengesetz“ fort: Die Psychoanalyse und Tiefenpsychologie ganz auszuschließen, hat man sich nicht getraut. Was Herr Fieberg allerdings verschweigt ist, dass die von ihm genannten zwei weiteren der vier Verfahren trotz besserer Datenlage damals keine Zulassung durch den „Wissenschaftlichen Beirat“ erhielten. Die Verbände, die für diese Ausrichtungen stehen, haben die Zulassung für diese Verfahren und auch die Anerkennung der Ausbildungsinstitute durch mehrere Instanzen gerichtlich erkämpfen müssen.  Um dies zu verhindern hat  der „Wissenschaftliche Beirat“ – entgegen der vorgeblichen Orientierung an „wissenschaftlichen Kriterien“ und „Rechtsstaatlichkeit“ – fortgesetzt Recht gebrochen und Urteile ignoriert. Insofern hat jetzt der Verweis auf die angestrebte „Methodenpluralität“ etwas Zynisches: Man opfert die „Psychoanalyse“, weil man den Kampf um die Singularität der „Verhaltenstherapie“ als Methode noch nicht gewonnen hat. Auch wenn – nicht zuletzt der Umstellung auf die „Pauschalisierten Entgelte Psychiatrie / Psychosomatik“ (PEPP) in den Kliniken die „Konfektionsware“ längst durchgesetzt hat.

Back to the Roots?

Die Universität vollzieht also in einer Form der „Un-Bewusstmachung“ einen Vorgang nach, der in der Frankfurter Stadtgesellschaft eine gewisse Tradition hat: Ich denke hier an die Beseitigung der Artefakte des jüdischen Ghettos, die Zerstörung der vormaligen „Großmarkthalle“ als Ausgangspunkt der Deportationen oder die Geschichte der „Arisierung“ von Immobilien bzw. der täterfreundliche Umgang hiermit nach 1945. Die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität kehrt – zumindest im Fachbereich „Psychologie“ – also mittelbar zu den Bedingungen vor 1931 zurück. Warum diese Zeitsetzung? Es scheint so, als sei das eingetreten, was meine Mutter vor über 50 Jahren mal mit den Worten: „Es muss irgendwann mal Schluss damit sein“ gefordert hat. Gemeint war damit, dass sie die Diskussionen über ihre Identifikation mit dem Regime, meinen „braunen“ Lehrern und anderen Kontinuitäten nicht mehr haben wollte. Man hat – auch im universitären Rahmen – so ziemlich „alles abgeräumt, was im Zuge der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen „post `68“ entstanden war – etwa auch das „Institut für Sexualmedizin“. Es scheint gelungen, im Rahmen einer homöopathisch anmutenden „Erinnerungskultur“ die „bräunlichen Kontinuitäten“ in Ideengeschichte, Institutionen und Kommunikation zu übertünchen. Oder – wie es in einem Lehrbuch für Psychiatrie hieß: „Man habe nach 1945 an die herausragenden Traditionen der Psychiatrie vor 1945 angeknüpft.

Der Schriftsteller Ralph Giordano hat in diesem Zusammenhang von einer „zweiten Schuld“ gesprochen, die aus der Weigerung, sich mit den Folgen des deutschen Faschismus für die je eigene Existenz zu beschäftigen, ergebe. NSU, das Attentat von Halle, der Mord an Walther Lübke – um nur einige Ereignisse zu nennen – zeitigen deshalb so schwache und verschleiernde politische Resonanz, weil sie das liebgewonnene Bild von der „Überwindung der Kräfte“, die zum deutschen Faschismus geführt haben, den Schleier also, zerreißen lassen. Vor der Empörung stehen Manöver der Schamabwehr: Die offizielle Reaktion ist dann beschwichtigend, abwehrend, teilweise die Opfer beschuldigend. Sie ist als Symptom zu sehen – als Kompromiss zwischen dem Affekt der – zumindest klammheimlichen Identifikation mit Täter*innen und Tat und der vorwiegend selbstwertstabilisierenden Idee, man sei als „postfaschistische Demokrat*in“ gegen diese Art Affekte gefeit.

Das obige Zitat vom Rückgriff auf die vorgeblichen präfaschistischen Errungenschaften verschweigt, hier exemplarisch am Beispiel der Psychiatrie, dass die „Wissenschaftliche Erkenntnis“, Theorie und Praxis von Rassismus und Antisemitismus getränkt war. Die NS-Auslesepolitik etwa konnte sich auf wissenschaftliche „Expertise“ stützen. Und, wie schon gesagt: die deutsche Psychologie ging einen analogen Weg.

Wir sehen als dass das Lehrpersonal und damit auch das lexikalische Wissen der Fachgebiete unhinterfragt die rassistischen Normen transportieren: Um das Ideal eines „kaukasischen männlichen Wesens als Normfigur wird ein „normalverteilter Mantel“ etwa  an „Persönlichkeitsmerkmalen“ gelegt, an denen sich der Rest der Menschen messen zu lassen hat. Wie schon erwähnt: Der Entwickler des gängigsten Persönlichkeitsinventares, Eysenck, könnte auf Grund der über ihn bekannten Haltungen und Meinungen, einen schlechten Leumund haben und es verdiente der Mühe, sich anzusehen, auf welche Weise seine rassistischen Vorurteile in die Testverfahren Eingang gefunden haben. Spannend auch zu sehen, wie in den 1980er Jahren mittels des beliebtesten deutschsprachigen Intelligenztests Schüler*innen mit Migrationshintergrund aus dem Regelschulsystem getestet wurden. Die Testentwicklung bezog sich auf Stichproben Hamburger Gymnasiasten – schlicht gesagt: Hier wurde Migrations- und Sozialpolitik psychologisch verschleiert betrieben.

Trotz aller Irrtümer und Fehlentwicklungen gehört zu den Grundlagen psychoanalytischen Denkens stetes hermeneutisches Hinterfragen der eigenen Perspektive: Bezogen auf die Theorie, das Menschenbild, die eigene Biografie etwa. Für die Theoretiker*innen des Mittelmaßes als Normalzustand, den Dogmatiker*innen der Empirie scheint dies  reine Häresie.

Bücherverbrennungen, Hexenprozesse und öffentliche Hinrichtungen waren in früheren Zeiten ein probates Mittel, Menschen deutlich zu machen, wie gefährlich „Irrglauben“ für das eigene materielle Leben sein kann – von der spirituellen Seite ganz zu schweigen.

Die Bücherverbrennungen von „undeutscher“, „jüdischer“, „zersetzender“ Literatur stellten das medial inszenierte Pendant hierzu zu Beginn des „III. Reiches“ dar. Sich etwa kritisch mit Freud auseinandersetzen hätte ja die Lektüre seiner Texte vorausgesetzt.

So haben die „Bücherverbrennungen“ alter Zeiten und die Veränderungen der Prüfungsordnungen und Besetzungsverfahren ein gemeinsames Ziel: Sie schaffen Diskursausschlüsse.

So wie etwa in den Wirtschaftswissenschaften Adam Smith oder Karl Marx nicht mehr vorkommen, so bleibt es den „Vollkommenen Nerds“ vorbehalten, sich in den hinteren Ecken der Literaturbestände mit Wissen auszustatten, welches vollkommen irrelevant für die Initiation als „Klinische Psycholog*in“ sein wird. So, wie zu meiner Zeit man eben davon ausgehen musste, die Studienzeit um ein Semester verlängert zu bekommen, weil klar war, man müsse die Prüfung in „Klinische Psychologie“ ein halbes Jahr später wiederholen, wenn man es gewagt hatte, seine Zeit im 31. Stockwerk des „AFE“-Turmes zu verbringen.

Man braucht also die mediale Inszenierung einer „Bücherverbrennung“ nicht mehr, sondern erledigt das Problem auf dem Verwaltungswege. Ob hier auch der alte Antisemitismus der Zunft und der akademischen Gremien mitschwingt? Ich weiß es nicht – aber in Deutschland scheint wieder so viel „en Vogue“ zu sein, was man historisch, ideengeschichtlich und persönlich für „durchgearbeitet“ gehalten hat – warum also nicht?

As time goes by….

GRÜN ist…..?….Oliv!

Nun steht er also, der Koalitionsvertrag. Und – wer hätte es angesichts der Konstellation nicht erwartet – es stehen wichtige Vorhaben drinnen, einige in schwammige Formulierungen eingekleidet, andere – etwa in Sachen „Verkehrspolitik“ – sind eine reine Zumutung. Und, natürlich, angesichts des Wahlergebnisses scheint diese Konstellation die einzig mögliche zu sein, wolle man keine neue „GroKo“. Mit der Kanzlerkandidatinnen-Kür als „Tiger“ gesprungen und als „Bio-Bettvorleger“ Christian Lindners gelandet?

In Teilen der grünen Bubble scheint der gesamte Prozess als etwas „Naturwüchsiges“ abgelaufen zu sein: Ist halt irgendwie „schiefgegangen“, die anderen Parteien und die Medien „unfair“ mit Annalena Baerbock umgegangen usw. Echt?

Ich habe in gut 36 Jahren nur einmal eine inhaltlich qualifizierte Wahlkampfanalyse nach einer Wahl erlebt – als Rot-Grün die Mehrheit in Hessen an Roland-Kochs mafiöse CDU verspielt hatte. Seitdem hat sich keine der mir bekannten Strukturen, weder im Land, noch im Kreisverband Frankfurt, noch im Bund, ernsthaft mit den – ja auch: handwerklichen Fehlern der Kampagnen beschäftigen wollen.

Diesmal, so scheint mir, spielt aber noch ein anders Element eine Rolle – die jetzt auch das „Personaltableau“ für die neue Regierung beeinflusst hat. Aber von vorne:

2013 ist nach der krachenden Niederlage die Mär geboren worden, die „Linken“ mit ihren Steuerplänen hätten dies verursacht. Kein Wort über eine  auch inhaltlich bescheuerte Kampagne, die darin gipfelte, dass das „Bild“-Zeitung „Sommerlochthema“ vom „Veggie-Day“ Furore machen konnte – ohne dass es eine spürbare Gegenreaktionen gegeben hätte. „If they go high…“ – ich kann es nicht mehr hören. Eine kampagnenfähige Organisation hätte auch professionell mit dem wirklich harten Vorwurf der „Pädophilie“ umgehen können. So aber taumelten die GRÜNEN lange rum, duckten sich zum Schaden auch der Wahlkampagne erstmal weg und versuchten nie, dem Thema offensiv zu begegnen. Selbstkritik? Fehlanzeige!

Diesmal schien es besser zu werden: Endlich die Agentur gewechselt, einen guten Wahlkampfauftakt…Aber nach zwei Tagen die Kandidatin – und mit ihr scheinst das gesamte Wahlkampfteam – im Rückwärtsgang. Warum?

Ich mag nicht an einen Zufall glauben, dass professionelles Campaining ohne Blick auf die Biografie der Kandidatin, ihren Internetauftritt etc. gehen soll. Das man sie in ein überflüssiges und bescheuertes Buchprojekt hineintreibt – und beim ersten Gegenwind, der weder sonderlich heftig war noch, was die Wahlkampfstrategien aller Parteien angeht, sonderlich „schmutzig“, in ein „MiMiMi“-Lamentieren überzugehen, anstatt gegenzuhalten… „If they go high…“. Nee Leute – ich vermute, dass in der Partei viele Menschen mit Macht Roberts Durchmarsch fest eingeplant hatten. Annalenas Kandidatur, so konform zum Frauenstatut sie auch war, ist als „Putsch“ verstanden worden, also hat man sie vor die „Wand laufen lassen“. Was, wie eingangs gesagt, nun auch das Personaltableau betrifft: Annalena Baerbock musste „versorgt“ werden, da sie als Vorsitzende zu beschädigt war. Mit ein Grund, weshalb das Gerangel entstanden ist, dass Toni Hofreiter ins Abseits spülte.

Nach circa 36 Jahren des Leidens an und mit der GRÜNEN Partei habe ich mehrfach politische Manöver erlebt , die selbst die Grausamkeit von SPD-Ortsvereinen in den Schatten gestellt haben. Das „Frauenstatut“ als „Nice to have“ haben schon Joschka, der Kreisverband in Frankfurt, die GRÜNEN im Saarland eindrucksvoll demontiert. Dass die Schlüsselqualifikation für Cem auf dem neuen Posten die ist, dass er als „Quoten-Migrant“ eingesetzt wird, beleidigt nicht nur ihn – sie macht auch deutlich, dass für „migrantisch gelesene“ Menschen auch bei den GRÜNEN ein rassistischer Deckel besteht, wenn es um Schlüsselposten geht.

So driftet die Partei seit Jahren immer weiter ins „Olivgrüne“ – die Farbgebung der Plakate im vergangenen Bundestagswahlkampf war nicht nur Zumutung, sondern auch Signal, es mit dem „GRÜN“ nicht allzu ernsthaft zu versuchen.

Christian Ströbele hat in einer Wahlkampfnachlese 2013 schon darauf hingewiesen, dass die Partei eine andere wäre, hätten ihr nicht nach 1990 viele wichtige Menschen den Rücken gekehrt. Natürlich ist im Zuge der kommenden Koalition ein weitere „Aderlass“ zu befürchten: Die Erfahrungen aus Hessen und BaWü lassen vermuten, dass die Konzessionen an die FDP im Koalitionsvertrages nicht nur Ausdruck einer Schwäche sind, sondern die GRÜNEN verlernt haben, für Kerninhalte entschieden zu streiten – „rote Linien“ zu definieren. Zu oft hat man in der Vergangenheit keine Konsequenzen aus Verstößen der jeweiligen Koalitionspartner gezogen, als dass man dies nun glaubhaft  versuchen könnte. Zumal die kommende Koalition natürlich auch Jobs generiert – und damit finanzielle Abhängigkeiten bei denen schafft, die im Apparat tätig sind.

Ist jetzt also endgültig der richtige Zeitpunkt, die GRÜNEN zu verlassen? Schon zu spät? Welche – auch innerparteilichen – Möglichkeiten bleiben?

Zunächst einmal sehe ich keinen politischen „Platz“ für eine neue politische „Linksgruppierung“ in Deutschland – vollkommen unabhängig davon, dass man politisch natürlich die „Linke“ vielleicht beerben könnte – dieser Prozess über viele Jahre aber eher ein Selbstbeschäftigungsprogramm linker Menschen in Deutschland sein würde – ohne spezifisch politische Relevanz.

Und ehrlicherweise muss man vielleicht auch eingestehen, dass die Beschreibung der GRÜNEN als „linkes Projekt“ ein schwieriges Labeling darstellt: Vom Gründungsparteitag her gesehen war das was heute als „Bündnis 90/ Die GRÜNEN“ gelabelt ist ein Sammelsurium sehr unterschiedlicher politischer und sozial-ökologischer Stränge, die sich unter dem „AKW-Nein danke“ Motto sammelten. In den späteren 80ern, spätestens nach der Bundestagswahl 1990 setzte sich eine Idee von „Realpolitik“ durch, die bestimmte Elemente des bundesrepublikanischen Polit- und Gesellschaftsdiskurses, etwa die „Marktwirtschaft“ – als gesetzt und nicht diskutierbar übernahmen und vertraten: „NATO“, „Hartz IV“, „Out-of-Area“-Einsätze der NATO und vieles andere mehr wurden scheinbar widerspruchsfrei in grüne Programmatik eingearbeitet – was etwa zur Folge hat, dass die GRÜNEN die Privatisierung des Gesundheitswesen widerspruchslos hinnahmen oder vorantrieben – auch im derzeitigen Koalitionsvertrag sehe ich keine Position zur „Gemeinwohlorientierung“ des Gesundheitswesens – die Personalressourcen in der Pflege sollen einfach in die DRGs eingearbeitet werden. Der Unsinn dieser Ansätze kann hier nicht diskutiert werden.

Den Widerspruch in die GRÜNEN stärker hineintragen? Das wird natürlich umso schwerer, wenn jetzt weitere Menschen resigniert die Partei verlassen.

Ich persönlich stehe nach der „Kommunalwahl-Farce“ in Frankfurt vor dem Absprung: Die Mutlosigkeit der Frankfurter GRÜNEN hatte sich in den Koalitionen mit der CDU – auch der „Römer-Koalition“ in der Legislatur davor, gezeigt. Sich statt der möglichen Zusammenarbeit mit der „Linken“ an die FDP zu binden, ist und war Ausdruck der konservativ-neoliberalen Haltung des Kreisverbandes, die mutlos und wütend macht. Gestern noch der Meinung, nachdem ich meine Entscheidung über den Verbleib vom Koalitionspapier abhängig gemacht habe, ich würde dem Papier und Personaltableau „unter Bauchschmerzen“ zustimmen, bin ich heute entschlossen, ein „Nein“ in die Waagschale zu werfen: Auch wenn die „GRÜNE Jugend“ schon „auf Linie gebracht“ worden scheint, glaube ich, dass eine ausreichende Zahl an „Nein“-Stimmen – vielleicht 30 Prozent – zumindest als Signal und Warnung gesehen werden könnte. Wichtig wäre in meinen Augen ein Prozess , in dem wir uns „parteiintern ehrlich“ machen: In kleineren Mitgliedertreffen auf kommunaler Ebene den Weg reflektieren zu können, den die GRÜNEN zurück gelegt haben um in einem weiteren Schritt – jenseits der Parteiprogramme formulieren zu können, in welche Zukunft wir den „politisch investieren“ wollen. Oder ob es in den nächsten Jahren nur darum gehen wird, irgendwie an der Macht bleiben zu wollen.

The Ballad of Easy Rider

„Evangelisch“ und „Jugendhilfe“ – Reisen in ein gewolltes Desaster

Der Film „Easy Rider“ beschreibt eine Pilgerfahrt auf der Suche nach den „Amerikanischen Werten“. Sie endet bekanntlich in einem Blutbad. Die Analogie ist natürlich nicht zufällig gewählt: Betritt man evangelisches Jugendhilfeterrain – hier exemplarisch ein großer diakonischer Träger der „Kirche im Rheinland“ – begibt man sich ebenfalls in eine unübersichtliche Landschaft gezogen von Erwartungen, die oft bitter enttäuscht werden. Und, ähnlich wie im Film, erweisen sich Trägersysteme, Heimleitungen – und in der Akzeptanz ihrer Ohnmacht – auch die Erziehungsverbände, als Bestandteil eines Gewaltsystems. Und so wie die Protangonisten des Films für den „Durchschnittsamerikaner“ ein Ärgernis, eine Störung darstellen, für die Filmfiguren letztlich „Todesurteile“ – erweist sich auch der „evangelische Machtapparat“ als tendenziell tödlich, zumindest krankmachend, etwa für Menschen, die Kinderrechte vor Profit stellen. „…flow river flow…“.

Das Problem besteht, analog zum Film, in der Perspektive des „average American“ wie des „durchschnittlichen evangelischen Verantwortungsträgers“: Sie beruht nicht auf einer irgend gearteten persönlichen Bösartigkeit der Personen, sondern, bewusst und unbewusst spüren diese, dass der Widerspruch der ihnen begegnet – hie die langen Haare und Motorräder, dort das kenntnisreiche Anmahnen von ethisch und / oder rechtlich gebotenen Bedingungen – letztlich einen Angriff auf ihre Lebensperspektive darstellt. In unserem Fall geht es um die Verteidigung persönlicher Privilegien, mehr aber noch um die Immunisierung der Apparate „Diakonie“ oder „Kirche“ gegen Kritik oder Einflussnahme von außen. Darin hat die evangelische Kirche in Deutschland bekanntlich „Übung“ – man denke nur an den unwürdigen Umgang, den viele Angehörige der „bekennenden Kirche“ seitens ihrer „Landeskirchen“ nach dem Krieg erfahren haben, waren diese doch mehrheitlich systemkonform, wenn nicht eindeutig nationalsozialistisch orientiert.

September 2013: Die „Jugend- und Altenhilfereferentin“ des Trägers hat das Team des Psychologischen Fachdienstes einbefohlen, um deutlich zu machen, dass die Jugendhilfe nicht mehr bereit sei, das permanente Insistieren des unabhängigen Psychologischen Instituts bezüglich der Einhaltung der „Spielregeln“ im Kinderschutz, zu akzeptieren. Sie begründet dies damit, dass es für den Träger ein „Dilemma zwischen Kinderschutz und Wirtschaftlichkeit“ gebe. Meinen Hinweis, „Kinderschutz“ sei als „Menschenrecht“ grundgesetzlich geschützt, das „Recht auf ökonomischen Erfolg“ nicht, quittiert sie mit Wut – sicher ein Meilenstein in Richtung auf die anschließenden arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen.

Das „ökonomische Argument“ zieht sich durch viele Diskussionen und Auseinandersetzungen, es ist aus mehreren Gründen verräterisch – ein Beispiel soll dies illustrieren: Besagte Kollegin hat – wie andere auch – das Ergebnis des „Runden Tisch Heimerziehung“ gefeiert. Haben sich die kirchlichen Vertreter*innen doch hier mittels Nötigung (und anderer Bösartigkeiten) dahingehend durchgesetzt, etwa die „Arbeitseinsätze“ der damaligen Insass:innen nicht als „Zwangsarbeit“ bewertet zu wissen. In diesem Fall hätten die Träger Rentenversicherungsbeiträge für diese Arbeitsleistungen nachzahlen müssen. Als „Arbeitseinsätze zur Sicherung des Lebensunterhaltes“ ausgewiesen, sind die Träger formal dieses Problem los. Verschwiegen wird allerdings damals wie heute, dass es eben Aufgabe der Träger wäre, im Rahmen der Subsidiarität kostendeckende Pflegesätze zu verhandeln. Die Beiträge für den Fonds zur Unterstützung der ehemals Betroffenen sind im Übrigen durch die heutigen Einrichtungen im Umlageverfahren finanziert worden – nicht über das Kirchenvermögen.

Womit die „Geschichtlichkeit“, berührt ist, also auch die Frage, worin die Wurzeln der heutigen Strukturen zu suchen sind. Wahrscheinlich darin, dass die Hauptsorge des heutigen Trägers auf der hoch defizitären Altenhilfe liegt. Aber auch darin, dass die Einrichtungen der Jugendhilfe an ihrem Hauptort eine lange Unrechtsgeschichte haben: 1936 von einer Düsseldorfer Diakonisse als Einrichtungsleitung übernommen, waren sie, dem Vernehmen nach, für einige Kinder ein „Vorhof zur Hölle“, so sollen Kinder in die Tötungsanstalten überstellt worden sein. Die Zwangssterilisation von 1200 jungen Frauen zumindest ist dokumentiert, mehr Unrecht nicht, da die Dame bis 1956 Zeit hatte, die Akten zu säubern. Ob ihr Nachfolger, ein Arzt, sich und die Einrichtung an den mittlerweile skandalisierten Arzneimittelexperimenten beteiligt hat, ist derzeit nicht klar. Der Träger selbst ist erst nach dem Krieg gegründet, hat also die „Altlasten“ aus der NS-Zeit „geerbt“. Aber es gibt ein evidentes Desinteresse daran nachzuverfolgen, welche Strukturen sich einrichtungsintern bis heute gehalten haben – etwa, warum etwa die Wohngruppen und pädagogischen Leitungen sich wie in einer „Wagenburg“ sitzend, gegen jeden Versuch wehren, Strukturen zu durchleuchten und zu verändern.

So scheint es, als werde der Verstoß gegen Kinderrechte heute nicht mehr „rassistisch“ legitimiert, sondern ökonomisch. Tötungsdelikte unterbleiben natürlich – der „Wert“ oder „Unwert“ von Menschen aber bemisst sich in Pflegesätzen, der Gewinnorientierung kirchlicher Träger – und der Weigerung, die Orientierung am Kindeswohl zum Maßstab für eigenes Handeln und Verhandlungen mit der öffentlichen Hand zu machen.

Warum dieser Text heute, 2020? Weil nach langen und harten Konflikten die Jugendhilfeleitungen durchgesetzt haben, den Psychologischen Fachdienst zum 01.10. 2020 aufzulösen. Die Kolleg:innen sind in Zukunft der Pädagogik in „Linie“ dienstrechtlich unterstellt. Die mahnende Stimme der Psycholog*innen – als eigenständiges Institut des nämlichen Trägers eigentlich ja von jeher schon daran gehindert – den rechtlichen Folgen des „Whistleblowing“ in Deutschland eingedenk – Missstände öffentlich zu machen, wird nun ganz zum Schweigen gebracht.

Das „Zentrum für lebenslanges Lernen“, gegründet als Zusammenschluß der verschiedenen heimpsychologischen Fachdienste und Ausbildungsinstitut, ist seit 2011 „gefleddert“ worden. Hierzu wurden Absprachen gebrochen, schlicht gelogen, Menschen vertrieben – ein Torso ist geblieben. Die Psycholog*innen sitzen wieder vereinzelt, dienstrechtlich den pädagogischen Leitungen unterstellt.

“Rest in Peace“: Es war ein harter Kampf, wir haben ihn verloren.

„…it flows to the see,

Wherever this river flows,

That´s where I wonna be,

Flow river flow…“

                               Roger McGuinn, „The Byrds“ (1969)

Warte nicht auf bessre Zeiten…

Ossy Zehner, einer der Produzenten von „Planet of The Humans“ sagte in einer amerikanischen Morgensendung (The Hill: Rising; 28.04.2020) sinngemäß, es mache doch stutzig, wenn man konstatieren müsse, dass ein Virus in fünf Wochen stärkere Effekte auf das Ökosystem „Erde“ gehabt habe, als die Ökologiebewegungen in 60 Jahren. Ein deprimierender Befund, der aber nahelegt, dass die politischen Strategien für die Zeit „nach Corona“ andere werden müssen. Für die GRÜNEN heißt dies wohl auch, einen Kurs aufzugeben, „Ökologisch zu blinken“, um dann in Regierungsverantwortung „grün lackierte CDU-Politik“ zu machen, wie heute in Hessen und Baden-Württemberg beobachtbar.

„…Wartest du auf bess´re Zeiten, wartest du mit deinem Mut, bis die Wasser abgeflossen – die doch ewig fließen…“ (aus: Wolf Biermann, Die Drahtharfe, 1965)

In einer der unseligen „Corona“-Talkrunden wurde vor einigen Tagen ein Soziologiedozent gefragt, ob er glaube, dass sich die Gehälter der Bediensteten in den Pflegeberufen nach Feststellung der „Systemrelevanz“ und diverser „Ovationen“ nun signifikant verbessern werde. Besagter Mensch verneinte mit der Begründung, Realität sei ja, dass die unterirdische Bezahlung bisher auch nicht davon abgehalten habe, diese Berufe zu ergreifen. „Marktwirtschaft“ heiße nun aber eben, dass es angesichts des Angebotes an „willigen Helfern“ keine „Marktnotwendigkeit“ für höhere Löhne ergebe.

Gut gebrüllt, Löwe: Das einzig Neue an der heutigen Situation in vielen sozialen Berufen sind die neuerdings entwickelten Begrifflichkeiten wie: „Pflegenotstand“, „Fachkräftemangel“ und „Lehrermangel“, um einige zu nennen. Ähnlich wie im Themenfeld „Ökologie“ waren die Entwicklungen absehbar, liegen und lagen Studien und Vorschläge zur Abhilfe vor, doch Strukturen und Akteur:innen, die sich auf die „ordnende Macht der Märkte“ berufen und ihre – mehr oder minder willfährigen – Helfer:innen in den politischen Entscheidungsfeldern haben Veränderungen verhindert.

Wenn wir spätestens bei den Erziehungsberufen den gesellschaftlichen Bereich der „Bildung“ betreten haben, dann muss auch über „Teilhabegerechtigkeit“ in allen Facetten gesprochen werden: Ob es nun um das drei-gliedrige Schulsystem, Formen der sozialen Absicherung oder den Kunstbetrieb geht, hier überall gilt: Wohl wissend um Defizite sind diese Themen marginalisiert oder ausgeblendet worden, was spätestens jetzt unübersehbar geworden ist. Wenn wir also die humanistischen Ansprüche an diese Gesellschaft ernst nehmen wollen, dürfen diese Themen nicht wieder „randständig“ werden.

Von Betroffenen wurde bisher verlangt, dass sie sich in der Konkurrenz um Unterstützung wechselseitig „kannibalisieren“: In Zeiten, in denen klar wird, dass alleine das Aufrechterhalten des „Regelbetriebs Kapitalismus“ über Kurzarbeitergelder, Rettungsschirme und andere Interventionsformen, Finanzvolumina erfordert, die das bisher gewohnte überschreiten, ist dies bedrohlich: Nachdem in diesen Sektoren letztlich 50 Jahre Strategien der Auslese üblich waren, die bisherigen Kriterien für Mittelvergabe aber vor dem Hintergrund des drohenden „Kahlschlags“ obsolet sind, stehen auch hier nicht gekannte Verteilungskämpfe ins Haus.

So klappern die Üblichen jetzt schon mit den Klingelbeuteln: Aufbau- und Kaufprämien sind gängige Forderungen, aber auch die Aufgabe von Klimazielen und die Forderung nach Lockerungen im Arbeitsschutz. Interessant hier jetzt schon die Haltung des Arbeitsministers (SPD): Um die Anerkennung der GroKo für die systemrelevanten Berufe zu bekunden, wurden arbeitszeitrechtliche Bestimmungen schnell mal gelockert. Hubertus Heil ist bekennender „Seeheimer“, deren Begeisterung für gesellschaftliche Veränderungen in etwa jener der „Werteunion“ entspricht.

Nun hat Hubertus also die Errungenschaften des „Homeoffice“ als essenziellen Bestandteil der zukünftigen Arbeitswelt entdeckt. Hm, möchte man fragen – wer hätte davon welchen Nutzen?

Verbesserung der Lebensqualität durch Wegfall der täglichen Pendel- und Stauzeiten, die hierdurch möglichen ökologischen Entlastungen scheinen auf der Hand zu liegen. Auf den zweiten Blick entfällt auch die betriebliche Rahmen für die Einhaltung etwa der Arbeitszeitvorgaben und Schutzbestimmungen: Sie werden auf die jeweilige Arbeitnehmer: in verlagert. Gemeinhin heißt es ja, dass Menschen unter den „Heimarbeitsbedingungen“ eher mehr leisten – der Druck, im Wettbewerb mit anderen zu performen steigt offensichtlich gerade dann, wenn der direkte Vergleich entfällt. So scheint denn das Vorhaben von Herrn Heil näher an den „Deregulierungsfantasien“ des „Duracell-Häschens des Neo-kapitalismus“, Christian Lindners zu sein, als auf der Seite von Arbeitnehmer:innenrechten.

Was hier aufleuchtet ist das, was Lothar Bönisch vor Jahren als das Arbeitsweltideal des „Abstract Worker“ beschrieben hat: Hierbei handele es sich um Beschäftigte, so die Skizze, die im Wesentlichen unter Verzicht auf persönliche Bedürfnisse global einsetzbar sind: Im Idealfall also Menschen, die ihre Dienste anbieten können, wo immer sie ihr Note-Book aufschlagen. In internationalen Hotelketten gibt es wohl heute schon etwa Fitness-Angebote , die helfen sollen, den je zeitzonen-typischen Rhythmus beibehalten zu können: Work-Outs sind also möglich zu „New-Yorker“ oder „Tokioer“ Zeit. Heißt dies zukünftig für Bedienstete von koreanischen Firmen, das die Kernarbeitszeit im „Home-Office“ dann zu „Seouler-Zeit“ abverlangt wird? Mit Kinderbetreuungseinrichtungen im 24/7 Betrieb?

Können wir uns dagegen ein „Recht auf Bio-Rhythmus“ vorstellen?

Selbst wenn man, was auch seine Berechtigung hat, sagen kann, dass die GroKo – coronabezogen – relativ gute Arbeit gemacht hat, so zeigen die Schattenseiten, dass – vielleicht ähnlich wie beim Thema „Homeoffice“ – es im Halbdunkel noch andere Bewegungen gibt, die vor den Pandemie-Wellen etwas zu verschwinden scheinen – was möglicherweise politisch beabsichtigt ist: So ist etwa zu hören, dass das Familienministerium klammheimlich den Beratungskonsens mit den Erziehungsverbänden zum Referentenentwurf für ein neues SGB VIII aufgekündigt habe. Entgegen den Vereinbarungen scheint man gewillt, ein zweites Mal einen Gesetzentwurf zum „Kinder- und Jugendhilfegesetz“ einbringen zu wollen, der seiner systemverändernden Wirkungen wegen auf Druck der Erziehungsverbände vorletztes Jahr schon einmal zurückgezogen wurde.

Und wir sollten nicht vergessen, dass Jens Spahn – aus Sicht der Betroffenen – mit dem IPReG die Autonomie von Menschen, die auf Assistenzsysteme angewiesen sind, massiv beschneiden will, was mittelbar zu deren Heimeinweisung führen würde. Dass der von Spahn ins Spiel gebrachte „Immunitätsausweis“ ohne stigmatisierende Aufnäher für die „Un-Reinen“ auskommen sollte, macht das Vorhaben nicht besser. Im Gegenteil: In einem Land, wo vor drei Generationen durch das erzwungene Tragen gelber Sterne eine Bevölkerungsgruppe sichtbar ausgegrenzt und der Gewalt überantwortet wurde, sollten sich derartige Überlegungen von Vorneherein erledigen.

Dies könnte ein durchgehendes Phänomen sein: Wir erleben – auch medial intensiv verbreitet – oberflächlich Momente, in denen eine Idee des „Fürsorgestaates“ durchleuchtet. Jenseits des Scheinwerferkegels scheinen aber die Demontagen des Sozialstaates weiter zu gehen. So verlautet wohl aus dem „Think-Tank“ der „Bertelsmann-Stiftung“ zu Fragen der Gesundheitspolitik, die Kommunen seien am Ende der Corona-Zeit wahrscheinlich derart finanziell am Rande der Zahlungsunfähigkeit, dass kommunale Krankenhäuser schlicht nicht mehr zu unterhalten seien. Die Gewinnmöglichkeiten der börsennotierten „Gesundheitsdienstleister“ würden sich also weiter vervielfältigen.

Wir sehen also an vielen kleinen und großen Beispielen, dass das „Warten auf bess´re Zeiten“, die Hoffnung auf „Krise als Chance“, eine vergebene sein könnte. „…an des Flusses Ufern sitzend, wartend, bis die Wasser abgeflossen – die doch ewig fließen…“ heißt es schon bei Biermann.

Wenn wir die jetzt aufflackernden Diskussionen über „Abwrackprämien“ und andere Absurditäten betrachten, dass selbst bei GRÜNEN Ministerpräsidenten die Autolobby einen stärkeren Einfluss hat als – sagen wir mal: der Weltklimarat. Das ist traurig, aber Realität. So wissen wir ja auch, dass Abgeordnete nur ihrem Gewissen verpflichtet sind, es also rechtlich einen „Fraktionszwang“ nicht geben kann – die Realität belehrt uns, dass die „repräsentative Demokratie“ Widersprüche beinhaltet, die sich aus der Frage ergeben, wer denn politisch repräsentiert wird, oder welche Interessen vertreten werden.

Nun sind die Aufgaben und Anliegen, die vor uns liegen, zu mannigfaltig, die Akteur:innenkreise zu divers, als dass es – in meinen Augen – auf den ersten Blick „die eine Linie“ geben könnte. Und – das Eingangszitat sollte dies bereits problematisieren: Wenn das Virus bezüglich der Umweltaspekte, aber auch des Aussetzens von „Schuldenbremsen“ effektvoller ist, als Jahre des politischen Antichambrierens, scheint es an der Zeit, die Strategien zu ändern. Nur – was könnte hier helfen, wenn schon alles – inklusive einer Parteigründung vor 40 Jahren in die Sackgasse geführt hat?

Beschäftigen wir uns für einen Moment mit dem Denkrahmen, in dem wir uns zu bewegen gelernt haben. Dieser ist offensichtlich so stark, dass auch die GRÜNEN dem Wachstumsfetischismus dergestalt erlegen sind, dass angesichts der diversen Krisenmomente keine weitere Idee möglich scheint, als „Grünes Wachstum“ zu fordern. Dies ist die Bekämpfung des „Teufels mit dem Beezlebub“.

Re-Framing

Von morgens bis abends, von „FAZ“ bis „taz“ werden wir mit wirtschaftlichen Kenndaten versorgt und in der Gewissheit gehalten, alles müsse „sich rechnen“. Nun, die Daten etwa, mit denen eine „Kostenexplosion“ im Gesundheitssektor vor vielen Jahren belegt werden sollte, waren schlicht falsch. Dennoch wird von diesen invaliden Grundannahmen aus rechnend, Gesundheitspolitik gemacht. Dies hatte Folgen für den gesamten Gesundheitssektor und wir müssen uns etwa fragen, ob wir das, was derzeit unter „Pflegenotstand“ gelabelt wird, mit allen seinen Konsequenzen einfach fortschreiben wollen – zu unser aller Schaden.

Oder aber, wir können uns und anderen die Frage stellen, welchem Menschenbild etwa die Idee folgt, dass sich „Gemeinwohlaufgaben“ kaufmännisch rechnen müssten. Wie steht es etwa mit dem ÖPNV? Wenn es die „Verkehrswende“ geben soll, müssen auch kleinere Orte im Odenwald oder Vogelsberg ausreichend angebunden und versorgt werden. Das lässt sich über die Ticketverkäufe nicht gegenfinanzieren. Müssen sich Universitäten rechnen, die Polizei, Kinder- und Jugendtheater? Also der Kunstsektor von den Einzelkünstlern bis hin zu den großen Bühnen. Muss sich Kinderbetreuung rechnen – oder geht es um pädagogische Inhalte, ausreichend gute und kindgerechte Betreuung?

Nun, wir haben es schon umrissen: der Rahmen von der Erzählung über die „Alternativlosigkeit“ einer „wachstumsorientierten Marktwirtschaft“ ist ein gesetzter – auch einer der in ritualisierten und formatierten Mustern durchgehend „abgespult“ wird. Durch die unwidersprochene Wiederholung, die Unausweichlichkeit innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs, verdichten sich die Momente dieser Erzählung zu „Glaubensgrundsätzen“, die nur schwer hinterfragt werden können. Schwer wiegt auch – und die Religionskriege und der Umgang mit den Daten zur Klimakrise zeigen es auf: Zweifel oder Versuche, an der entstandenen „Dogmatik“ zu kratzen, lösen heftige Gegenreaktionen aus.

Dies ist aus der Funktion der „Rahmenerzählungen“ heraus erwart- und verstehbar: Die Narrative helfen, eine komplexe und widersprüchliche Welt voller gegensätzlicher Informationen zu strukturieren. Damit sind sie angstbindend. Jeder vermeintliche Angriff auf das „Gewissheitssystem“ löst also in erster Linie Ängste – bis hin zu pathologischen Abwehrmustern aus.

Für den Moment mag diese Skizze ausreichen, um deutlich zu machen, dass „vernunftgesteuerte“ Argumentationsversuche oder solche „moralischer“ Natur eben als „Angriffe“ auf zentrale Wesenskerne der  Weltsicht oder gar der Gesamtperson erlebt werden und entsprechend sich die Antwort, die Einsicht und das nachfolgende Verhalten der Personen von diskursiven Erwartungen ablösen. Was könnte also helfen, wenn weder vernunftgestützte Vorgehensweisen noch schlichte Machtpolitik hieran etwas verändern könnten?

Statt einer konfrontativen Strategie scheint mir eine andere sinnvoller: Der Versuch, die Rahmenerzählung aus einer anderen Perspektive zu versuchen, Akzente neu und anders zu setzen – um zunächst einmal die fundamentalistischen „Gewissheiten“ zu irritieren – ohne sie aber direkt auflösen zu wollen. Technisch gesehen, kann man dies als „Reframing“ bezeichnen.

Sinnvoll sind also zunächst kleine Modifikationen des Erzählrahmens. Für den hier diskutierten Zusammenhang schlage ich die Perspektive einer „Gemeinwohlorientierung“ vor. Dieser Blickwinkel ändert am Erzählzusammenhang vordergründig gar nichts: Letztlich handelt es sich nur darum, den Staatszielgedanken des „Grundgesetzes“ über seine Anfangsartikel hinweg ohne Zergliederung in die einzelnen Artikel zusammenzufassen.

Auf den ersten Blick scheint noch nicht viel gewonnen – wenn wir uns das Argument „Gemeinwohlorientierung“ aber an Beispielen ansehen, wird klarer, welche Wirkung diese Orientierung haben könnte:

Nehmen wir aus der aktuellen Diskussion die Frage der Überbrückungskredite für die „Lufthansa“. Den Medien ist zu entnehmen, dass es eine Kontroverse darum gibt, ob ein Betrag von immerhin 10 Milliarden Euro auch daran geknüpft ist, dass der „Bund“ mittels zweier Aufsichtsratsmandate Einfluss auf die Geschäftspolitik nehmen könnte. Ein Blick nach Frankreich kann hier hilfreich sein: Die Regierung Macron – sicher sozialrevolutionärer Umtriebe unverdächtig – knüpft die Rettung von „Air France / KLM“ an Bedingungen ökologischer Natur, etwa den Verzicht auf innerfranzösische Kurzstrecken. Bei der Gelegenheit ließe sich auch die Frage klären, wozu eine Fluggesellschaft mit Firmensitz in Frankfurt am Main Büros auf den Caymann-Inseln unterhalten muss und wie zukünftig mit dem „nationalsozialistischen Erbe“, also etwa auch der Ausbeutung von Zwangsarbeiter:innen durch die „Deutsche Lufthansa“, umgegangen werden könnte.

Aus der Formulierung der Gemeinwohlpflichtigkeit von Eigentum im Art. 14.2 des Grundgesetz lassen sich Verbindungen in Steueroasen nicht leicht ableiten, der originäre Transportauftrag der LH schon.

Was fällt den alles unter „Gemeinwohl“? Ein Sektor, der leicht durch die Raster zu fallen scheint, ist der Bereich „Kultur“ in seinem weitesten Sinne. Auch in Zeiten „von Corona“ sieht es so aus, als würden die „großen Kultureinrichtungen“, etwa Schauspielhäuser und Oper selbstverständlich aufgefangen, oder es gibt zumindest ernsthafte Anstrengungen, sie über die Zwangspause zu retten. Die kleinen selbständigen Theater- und Kulturschaffenden aller Art werden / wurden auf ALG II verwiesen. Hier setzt sich etwas fort, was schon im gesellschaftlichen „Normalbetrieb“ zu beobachten ist: Es gibt einen „edlen Kunstbetrieb“ der alimentiert wird – wobei auch hier schon zwischen „Staatstheatern“ und etwa „städtischen Häusern“ große Unterschiede bezüglich der Bezuschussung zu verzeichnen sind.

Ansonsten gilt „Kunst“, besonders in der „U“-Variante, als Metier der Gaukler, Tänzer und Schausteller. Sprich: Aus der Perspektive des Bildungsbürgers gibt es ein zu bewahrendes „kulturelles Erbe“. Der hier notwendige Betrieb wird bezuschusst und, wie am Beispiel „Elphi“ deutlich, hier lässt man sich dies auch was kosten! Die Beteiligten im weiteren Kulturbetrieb werden im Wesentlichen zu Hungerleidern degradiert, die ja selbst dafür verantwortlich sind, nichts Ordentliches gelernt zu haben. Ich möchte hier keine „Ästhetik-Diskussion“ aufmachen – das Argument ist ein anderes: Wenn „Kultur“ ein Aspekt „gesellschaftlicher Teilhabe“ ist, dann ist die persönliche Teilhabe nicht mit der Freistellung vom Rundfunkbeitrag erschöpft. Sondern es muss jedem Menschen überlassen bleiben, in welcher Form mensch diesen Anspruch für sich realisiert.

Die „Teilhabediskussion“ begleitet die Soziale Arbeit seit der mangelhaften Ausstattung dessen, was bis zur „Agenda 2010“ als der „Warenkorb“ in der „Sozialhilfe“ bezeichnet, der jeweils eingestellte Betrag für „kulturelle Teilhabe“, ist und war.

Sprich: Es gibt bereits eine „halbseidene“ Anerkennung der Bedeutung dieses Feldes für ein gleichberechtigtes Leben in Würde – nur sind die Operngänger:innen halt etwas gleicher.

Der Gemeinwohlansatz führt jetzt die Kunstproduzent:innen aller Couleur und die Nutzer:innen zusammen – ohne dass von vorneherein „Werturteile“ getroffen werden.

Zu den Mythen der Ökonomie gehört auch die Beschreibung einer Endlichkeit der Ressource „Geld“. Abgeleitet von dieser Prämisse – und der Erkenntnis, man könne einen Euro nur einmal ausgeben – werden gesellschaftliche Ansprüche gegeneinander aufgerechnet und die Antragsteller:innen in Konkurrenz zueinander gehalten. So hat etwa eine Referentin des „Städte- und Gemeindetages“ auf einer Veranstaltung zu Möglichkeiten des präventiven Kinderschutzes sinngemäß gesagt, Geld in diesem Bereich könne es nur geben, wenn man es der Behindertenhilfe wegnähme.

Die resultierenden „Kannibalisierungsstrategien“ gehen zu Lasten der Methodenvielfalt und schaden damit letztlich auch den Klient:innen. „Am Markt“ setzen sich dann die Träger durch, die durch Outsourcing oder Unterlaufen von Mindeststandards die „günstigste“ Kostenstruktur anbieten und damit zu Dumpingkonditionen die „Spirale nach unten“ vorantreiben. Das hat mit „Markt“ im eigentlichen Sinne Nichts zu tun, bedeutet aber, etwa bezogen auf den Bereich der kinder- und Jugendhilfe – dass sich „öffentliche Kostenträger“ (Gemeinden und ihre Jugendämter) immer weiter von den grundrechtlich garantierten und auch sozialrechtlich festgeschriebenen Vorgaben entfernen und letztlich die pädagogische oder psychologische Fachlichkeit keine Rolle mehr spielt, sondern ausschließlich die Kassenlage.

Für die „Kinder- und Jugendhilfe“ ist der Auftrag, darauf hinzuwirken, dass Teilhabebefähigung entstehen möge, explizit gesetzlich festgeschrieben, die SPD hat unter Olaf Scholz von Hamburg her kommend bereits eine Reform des SGB VIII angestoßen, die letztlich zu einer „Jugendhilfe nach Kassenstand“ führen würde und so den heutigen Rechts- und Schutzanspruch der betroffenen Familien in eine Art „Gnadenrecht“ verkehren würde.

Alles wichtige Themen – und doch nur ein kleiner Ausschnitt:

Aber – und hier leuchtet die Falle des „Ja, aber…“ auf: Neben der notwendigen Infrastruktur und deren Unterhalt geht es ja auch um die Menschen, die diese Bereiche ausfüllen und – im Gegensatz zur heutigen Zeit – auskömmlich bezahlt werden sollten. Also doch: „Wer soll das bezahlen?“

Die Spur des Geldes…

Bevor wir jetzt in Gedanken beginnen, für die unterschiedlichen gesellschaftlichen Themenfelder (i.e.: Klima, Verkehr, Schulen, Gesundheit, usw.) je in Gedanken Stapel von Geldscheinen zu schichten und diese möglichst gerecht zu verteilen, lade ich zu einem Gedankenexperiment ein:

Mit Stichtag 31.03.2020 hatten die USA eine Staatsverschuldung von 23,3 Billionen US-Dollar. Beim Abruf der Zahlen am 11.05.2020 (https://www.gold.de/staatsverschuldung-usa/) waren es etwas über 25 Billionen. Da muss die Oma lang für stricken, hätte man früher gesagt.

Im Ernst: Ganz besonders vor dem Hintergrund der desolaten öffentlichen Infrastruktur in den USA ist es vollkommen illusorisch, sich vorzustellen, dass diese Summe jemals tatsächlich an Gläubiger zurückfließt. Die größten Halter amerikanischer Staatsanleihen, über deren Ausgabe sich die USA Geld verschaffen, sind Japan und China. Jenseits der Trump´schen Rhetorik ist allen Beteiligten klar, was passieren würde, hätte einer der weltweiten Player das Bedürfnis, diese theoretisch vorhanden Geldvolumina tatsächlich zu realisieren: „All-In!“

Die eigentliche „Währung“ ist Vertrauen: Etwa in die Wirtschaftsleistung der USA, die Kaptitalfreundlichkeit von „Freihandelsabkommen“ und anderer Bedingungen mehr. Ein Teil des Plots aus „Bad Banks“ spielt mit der Panik, die entstehen würde, wollten etwa wir Konsumenten plötzlich beginnen, unsere „kleinen bunten Scheinchen“ am Automaten abzuholen.

Seit der Aufgabe der Goldbindung des Dollars gibt es für die umlaufenden Geldbeträge keinen realen Gegenwert mehr. Dies führt etwa dazu, dass jede Sparkasse „eigenes Geld ausgeben“ kann: Meine Hausbank holt sich bei einem Konsumentenkredit an mich das mir zu leihende Geld nicht von einer Zentralbank, sondern schreibt mir den Betrag „gut“. Hier ist kein einziger Schein bewegt worden, es ist ein Spiel mit „Einsen und Nullen“. Wir lassen den Fall außer Acht, dass teilweise diese Kredite weiterverkauft werden, wir beschäftigen uns auch nicht damit, wie perfide es ist, dass in dieser Krisenzeit einzelne Hausbanken über die KfW abgesicherte Gelder nicht an Betroffenen auszahlen, obwohl ihr Haftungsrisiko eigentlich gegen Null geht.

Ich will mit dieser Skizze nur den Unterschied zwischen „Buchgeld“ und „Vollgeld“ illustrieren: Der „Konsumentenkredit“ im Beispiel steht nur „in den Büchern“, es steht ihm kein realer Wert gegenüber. Nutze ich den Kredit etwa zum Autokauf, wandern auch hier keine Scheine, sondern Zahlen. Der reale Wert des Autos ist aber nicht notwendig mit der hierfür aufgewandten Geldsumme beschrieben – und sinkt mit jeder Sekunde meiner täglichen Nutzung weiter, so dass der Geldsumme letztlich kein „realer Wert“ gegenübersteht.

„Zinswetten“ gegen Staaten und Währungen, „Spotmärkte“, „Leerverkäufe“ – all dies funktioniert nicht durch Verschieben von „dicken Geldbündeln“, sondern über Algorithmen, die Zahlenreihen bewegen. All dies beruht darauf, dass ähnlich wie die Höflinge im Märchen es niemand wagt, den Kaiser“ (Finanzwirtschaft) als „nackt“ zu bezeichnen. Die Angst des Olaf Scholz vor der „Finanztransaktionssteuer“ ist die Angst davor, dass irgendjemand die Autosuggestion, die das „blinde Vertrauen“ in dieses System fordert, aufhebt. Das ist ein Sinn des Frames „Alternativlosigkeit“: Die Aufrechterhaltung einer suggestiven Erzählung, eingespielt über „Börse vor Acht“, Schulbücher, Veränderungen an Studienordnungen, der Hochschulfinanzierung, der „Unausweichlichkeit der Privatisierungen im Gesundheitswesen“………….

Von Angela Merkel kommt, so meine ich zu erinnern, das Beispiel mit der „schwäbischen Hausfrau“, bezogen auf „solide“ staatliche Haushalte. In Analogie hierzu: Olaf Scholz schickt keine Beamte in den Keller des Ministeriums, um dicke Bündel an Geldscheine in Koffer umzupacken, die dann an die „KfW“ gehen: Auch die 156 Mill. Euro, die im ersten Rettungsschirm zugesagt worden sind, sind nicht „real“, nicht materiell. Sie sind ein Versprechen.

Etwas flappsig formuliert könnte man sagen: Es steht den Notenbanken frei, der Bundesregierung eine Summe „X“ für Ausgaben aller Art zu zuweisen – und diese Beträge am Ende des Haushaltsjahres einfach aus den Büchern zu streichen – es wäre niemand geschädigt.

Anhand eines Beispiels: Nehmen wir mal an, Schätzungen eines nationalen Kapitalbedarfs zur Abfederung der gesellschaftlichen Kosten der Pandemie beliefen sich auf 400 Milliarden Euro. Die Bundesbank könnte der Bundesregierung dieses Geld zur Verfügung stellen, und – damit Christian Lindner nicht vor Schreck aus dem Porsche fällt – eine Laufzeit von 250 Jahren festlegen und den Beginn des Schuldendienstes für das Jahr 2022 festlegen.

Nun wird es Menschen geben, die argumentieren, dass dies das Problem auf die Enkelgenerationen verschieben würde.  Diesen könnte man vielleicht entgegnen, dass die kaputte Infrastruktur in Schulen, Verkehrsmitteln und Gebäuden schon die Heutigen gefährdet, die Klimakatastrophe für spätere Generationen existenzgefährdend ist – und viele derjenigen, die so argumentieren, kein Problem mit atomaren Abfällen hatten, deren „Halbwertzeit“ 250 Millionen Jahre beträgt. Hieß damals „Energiesicherheit für Generationen“. Also: Geht doch!

Der „springende Punkt“ ist in meiner Argumentation also keiner irgendeiner „Geldwerttheorie“. Es geht um etwas Anderes:

Die Währung heißt letztendlich – ich wiederhole mich:

 „Vertrauen“.

Nur dass das Vertrauen eben nicht uneingeschränkt uns als Bürger:innen gilt, sondern es stehts um das „Vertrauen der Märkte“ geht. Eigentlich müsste längst klar sein, dass die Akteur:innen im Finanzsystem den Vertrauensvorschuss, den sie immer wieder – auch 2008 – verspielen, nicht verdienen. Es sind halt „Zocker“. Das politische System, die Mandatsträger:innen – ja, wir alle – verhalten uns dieser „Spielhölle globale Finanzwirtschaft“ wie Co-Abhängige, die nach jedem Rückfall geneigt sind, den Beteuerungen, nun sei wirklich Schluss (!) Glauben zu schenken.

Also – es wäre an der Zeit, wenn wir das Vertrauen, von dem allenthalben die Rede ist, in die „Bürgergemeinschaft“ setzen: Den derzeitigen Umfragen zu Folge scheinen die Bürger:innen, was etwa „Lockdown“ und andere Maßnahmen der Eindämmung der Ausbreitung von „Covid-19“ angeht, verantwortungsvoller zu denken und zu handeln als etwa, Chrissie Lindner und Armin #derWok Laschet.

Und – eine weitere gute Nachricht: Wir könnten heute schon davon ausgehen, dass die Schuldendienste bei der Bundesbank besser laufen würden als die der „Amis“ heute: Wir würden sehen können, was eine Kerosinsteuer vermag (auch ökologisch), könnten den Steuersegen verzeichnen, der bei Besteuerung von „Starbucks“, „Amazon“ oder „Facebook“ entstehen würde. Wir könnten die Einnahme aus entsprechend hohen Unternehmens- und Vermögenssteuern addieren wollen und natürlich auch der Erbschaftssteuer.

Nun kommen da Gegenargumente, aber – wäre der Rückzug von „Starbucks“ ein Verlust für die „Cafékultur“ in Deutschland? Wäre es nicht an der Zeit, auch darüber zu reden, wie die Vermögen, etwa das der Familie Quandt, entstanden sind. Und wir würden – auch bei dieser Unternehmensgeschichte – viel über „Arisierungsgewinne“ und die Ausbeutung von Zwangsarbeiter:innen lernen – und wie diese geraubten Vermögen erhalten und gemehrt wurden – auf unser aller Kosten.

Es wäre doch ein Anfang, oder?

Börse vor Acht – Fünf nach Zwölf für die Zivilgesellschaft?

„Börse vor Acht“ beweist allabendlich, dass es auch die Möglichkeit des „Sandmännchens für Erwachsene“ gibt – oder zumindest in der ARD die Erkenntnis, dass auch das Tagesprogramm des Bundesbürgers eine Abrundung braucht: Die Sendung nimmt uns mit in die Welt des Börsenparket. Doch schon die Behauptung, man sende aus der „Frankfurter Börse“ ist kontrafaktisch: Die Börse ist heute in Eschborn/ Taunus, nachdem die aktiennotierte Börsengesellschaft sich von der Stadt Frankfurt zu Dumpingkonditionen einen Neubau hatte erstellen lassen, lockte unmittelbar danach aber die Nähe zum vermögenden Taunuspublikum mehr, als die Fairness gegenüber der langjährigen und namensgebenden Heimat.

So wie die Rahmung der Sendung „Blendwerk“ ist, gilt dies auch weitgehend für ihr Aushängeschild: Anja Kohl, „Anchorwomen“ der Sendung, gilt als „Börsenexpertin“. Eine erstaunliche Bezeichnung für eine gelernte Germanistin, hätte ich an dieser Stelle doch eine Ökonomin vermutet. Aber es geht hier ja nicht um die Vermittlung ökonomischer Kompetenz, sondern, wie beim „Sandmänchen“ auch, um die Gelegenheit, innerhalb eines „Ritus“ eine Erzählung vorzutragen, die den Zuschauenden das Gefühl vermittelt, Alles sei gut, man kümmere sich und nun sei es Zeit, zum abendlichen Konsum über zu gehen. Kinder werden dann ins Bett gebracht, wir Großen dürfen uns dann mittels Filme der „Degeto“ – in eine Welt entführen lassen, in der es zumeist ein „Happy-End“ hat.

„Rotkäppchen“ – um ein Beispiel für die Wirkung eines rituellen Rahmens zu nutzen, war nicht einfach „nur“ ein Märchen: Die Märchenstunden hatte ihren festgelegten Rahmen, waren also Teil eines Sinnzusammenhanges.  Und im Märchen selbst wurden Geschlechtsrollenstereotype, die Herrschaftsformen und andere gesellschaftliche Codes vermittelt. In Varianten, nicht in „Dauerschleife“, aber auf jeden Fall eingewoben in einen Sinnzusammenhang.

Diese Funktion einer „Märchenstunde“ übernehmen nun Anja Kohl und Co.: Sie unternehmen den Versuch einer „Sinnstiftung“, einer „Psychologisierung“ des Geschehens an den „Finanzmärkten“. Nicht unpersönliche Algorithmen, programmiert mit dem „Mind-Set“ der Gewinnmaximierung, spielen die Hauptrolle. Sondern – und das ist die Aufgabe der „Storyteller“ – vermittelt wird eine „menschliche Seite“ des Finanzgeschehens – es ist die Rede von „nervösen“, ja „scheuen“ Märkten. Mit der Aktie auf „Du & Du“.

Sieht man sich die umfänglichen Auftritte von Frau Kohl etwa vor illustrem Publikum an, so unterstreicht dies, dass Anja Kohl sich nicht in der Rolle einer Journalistin sieht, sondern Promotion macht: Sie „verkauft“ eine Ideologie, die Bill Clinton etwa so zusammengefasst hat: „It´s economy, stupid“.

Ein kluger Kopf hat einmal etwas zugespitzt gesagt, es sei schon ein interessantes Faktum, dass die wesentlichen Säulen dessen was heute als „Wirtschaftswissenschaften“ betrachtet werden, auf etwa vier DIN A 4-Seiten passten. Dies kann ich nicht beurteilen. Was aber scheinbar unwiderlegbar scheint, ist, dass dieses Wissenschaftsgebiet – und damit schlicht auch die resultierende Praxis – an den „Kathedralen der Ökonomie“ ohne grundlegende Theorien etwa von Riccardo, Adam Smith oder Karl Marx auskommen muss. Zumindest was die Vermittlung im universitären Rahmen angeht. Ralf Dahrendorf – FDP-Urgestein und auch als ehemaliger Leiter der „London School of Economics“ unverdächtig, ein „Umstürzler“ zu sein, hat in den 1990ern – meiner Erinnerung zu folge, sinngemäß formuliert, dass es ihm unverständlich sei, wie in den Wirtschaftswissenschaften etwa mit Marx´schen Grundbegriffen wie „Mehrwert“ hantiert werde. Dies sei deshalb kritisch, da er sehe, dass die ökonomische Theorie von Marx und Engels weder rezipiert werde, noch man sich die Mühe mache, sie widerlegen zu wollen. Mehr Schein als Sein also?

Spätestens vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass die Ökonomie zur unhinterfragten Leitwissenschaft aufsteigen konnte und wir faktisch einen Grundkonsens der „Alternativlosigkeit“ feststellen müssen. Obwohl es ja tatsächlich eine ganze Reihe von Konzepten zur vorgeblichen Dogmatik der „Kräfte des freien Marktes“ gäbe: Nehmen wir die Raiffeisenbewegung, andere genossenschaftliche Modelle, vielleicht auch Ansätze der „Gemeinwohlökonomie“ oder Diskussionen um „Allmende“ oder die Bewegung für den Übergang zu „Vollgeld“ etwa in der Schweiz, bis hin zu lokalen Währungen, wie sie etwa im Großraum Paris politisch geführt werden. Ist nicht „Meinungsvielfalt“ einer der Kernaufträge für die ARD als „öffentlich-rechtliche“ Institution?

Ich fasse zusammen: Das Vorabendprogramm der ARD im unmittelbaren Vorfeld der „Tagesschau“ folgt wochentags einer verlässlichen Abfolge. Dies lässt sich als einer „ritualisierte Form“ bezeichnen. Rituell strukturierte Rahmen suggerieren Sicherheit und Verlässlichkeit. Innerhalb dieser Form werden sinnstiftende Erzählungen vermittelt, die für die je zugrundeliegende Kultur von hoher Bedeutung sind. „Ökonomie“ wird innerhalb der Erzählung durch „Börse vor Acht“ nicht umfassend verstanden, sondern auf als „marktliberal“ zu bezeichnenden Modelle enggeführt. Sinn scheint die Indoktrination des Publikums zur „Prime-Time“ zu sein, um die „Alternativlosigkeit“ des „Primates der Ökonomie“ zu vermitteln.

Doch wozu das Ganze?

Ein Blick zurück, der lohnt: Mit der Zerschlagung der „Deutschen Bundespost“ nahm die Privatisierung von Gemeinwohlaufgaben Fahrt auf. Der künstlich erzeugte Hype um die Aktie der nunmehr „Telekom“ geheißenen Sparte galt als „Startschuss“ hin zu einem Umbau auch aller Sozialsysteme: Mit der Auflösung der DP, dem später gescheiterten Börsengang der „Deutschen Bahn“ gingen den Beschäftigten nicht nur soziale Vergünstigungen verloren, in der Folge wurde auch der gesamte Immobilienbestand der vormaligen Staatsbetriebe verkauft. Das „Volk von Aktionären“ war in der Folge auch gezwungen, privat für die Altersversorgung vorzusorgen, die Gesundheitsdienste wurden an Aktienkonzerne ausverkauft, die ambulanten Pflege „marktgerecht“ umgestaltet, um nur einige Beispiele zu nennen.

Der anfängliche Höhenflug der Telekom-Aktie heizte in Deutschland die Börsenspekulation auch mit Papieren von Start-Ups ohne ökonomische Substanz an. Der von Profis erwartete Crash – als „Dotcom-Blase“ in die Geschichte eingegangen, beendete diese Blütenträume. Hier hätte die Geschichte also enden können – möglicherweise hätten in der Folge stärker regulierte und am Gemeinwohl orientierte Aufsichtsmechanismen auch den acht Jahre später erfolgten Finanzcrash verhindern können – aber das ist ein weiteres Thema.

Hier geht es erst einmal darum, dass das Format – 2000-2012 noch „Börse im Ersten“ geheißen – aus der Taufe gehoben wurde, um dem Scheitern der „Volksaktien-Träume“ ein Narrativ zu unterlegen, das der Geldvernichtung für die Mehrheit der Kleinanleger unmittelbar davor eine Sinnstiftung vermittelte. Es ging also darum, die die Erzählung vom Gemeinwohlnutzen der „unsichtbaren Hand des Marktes“ für uns als Gemeinschaft zu retten um die weiteren Schritte der „Privatisierungsorgien“ widerspruchsfrei als „zwingend“ vermitteln zu können.

Wer hat nun etwas davon – wenn es die Allgemeinheit ja offensichtlich nicht ist?

Ich denke, an dieser Stelle muss man weder die Geschichte der Ökonomie und der Globalisierung ausführen noch auf Netzwerktheorien zurückgreifen – auch wenn natürlich das allseits einsatzbereite Personal von „Goldman & Sachs“ und die Netzwerker:innen der „Hayek-Gesellschaft“ und andere irgendwann prominente Rollen einnehmen. Für unsere Zwecke reicht ein spezifisch auf deutsche Verhältnisse beschränkter historischer Abriss:

Die „junge Bundesrepublik“ war angetreten, aus den „Fehlern“ der „Weimarer Republik“ zu lernen – so die Legende. Zu dieser Erzählung gehören auch die Beschreibung einer „Stunde Null“ und die Verbeugung vor Ludwig Ehrhard als dem Erfinder der „Sozialen Marktwirtschaft“. Der erste Begriff steht als Metapher für die „Tabula Rasa“, den kompletten Neubeginn der deutschen Gesellschaft nach der Kapitulation 1945, zweiter für die gelungene Versöhnung von „Kapital und Arbeit“. Beides habe gewissermaßen zu einer „Befriedung“ der Nachkriegsgesellschaft beigetragen und auf diese Weise seien die scharfen Klassenauseinandersetzungen der „Weimarer Zeit“ in einen repräsentativ-parlamentarischen Diskurs überführt worden. Hierüber sei auch die Öffnung der SPD für eine marktwirtschaftliche Haltung erst möglich gewesen.

Beide Erzählungen können nicht unwidersprochen bleiben: So hatten große Teile der Anlagevermögen – etwa industrielle Fertigungsmöglichkeiten, Immobilien und Grundstücke – den Krieg relativ unbeschadet überstanden. Die Rückabwicklung der mittels „Arisierung“ geraubten vormals jüdischen Besitzern gehörenden Werte fand nicht statt, die „Währungsreform“ verstärkte die Restauration zu Gunsten der schon den faschistischen Staat ehedem finanzierenden Kreise noch. Dieser fehlende Wandel – auch befördert durch das nachlassende Interesse der Alliierten an der „Entnazifizierung“,  bildet sich natürlich auch über Personen und deren Biografien ab: So hat Ludwig Ehrhardt schon zu NS-Zeiten ein Wirtschaftsprogramm entworfen, dass in groben Zügen, inclusive des durch die „Währungsreform“ verursachten Kapitalschnitts für die breite Bevölkerung, eine Wirtschaftspolitik enthält, die als „Soziale Marktwirtschaft“ gelabelt wurde. Neben ihm und Hermann Abs in der „Deutschen Bank“ und anderen Profiteuren der NS-Wirtschafts- und Verwaltungspolitik bestimmten also die „Kriegsgewinnler“ im Wesentlichen die Erzählung bezüglich dessen, was als „Wohlstand für Alle“ politisch vermarktet wurde. (Literaturvorschläge am Ende des Beitrags)

Wir überspringen die Zeit des „Wirtschaftswunders“ und auch die beginnenden Verteilungskämpfe, die dann zur Ablösung Ehrhards, zur „Großen Koalition“ und danach zu in die „sozial-liberale“ Koalition unter der Kanzlerschaft Willy Brandts führten. Es geht in diesem Zusammenhang ja um die Frage nach der Sinnhaftigkeit und Wirkmächtigkeit des auch durch „Börsen vor Acht“ gepredigten Mantras. Das rechtfertigt die Verkürzung, damit der Blick auf die Rolle der FDP frei wird.

Grob gesagt folgte die FDP in den Gründerjahren der BRD „nationalliberalen“ Denktraditionen aus den „Weimarer Zeiten“, mit denen sie anschlussfähig an das Ideenpotential von NS-Anhängern wurde. Folgerichtig war die FDP-Bundestagsfraktion ein Sammelbecken ehemaliger NSDAP-Mitglieder. Dies änderte sich erst gegen Ende der 1960 Jahre – was den Weg frei machte für die Reformkoalition Brandt-Scheel. Ausdruck hierfür waren dann die „Freiburger Thesen“. Diese Epoche dauerte bis gegen Ende der 1970er Jahre – schon die Regierung Schmidt ließ sich bereitwillig wieder in Richtung eines „negativen Freiheitsbegriffs“ manövrieren, der jedwede staatlich vermittelten Regulierungen als Eingriff in die Freiheitsrechte sieht. Doch selbst die Sozialdemokraten hatten (damals noch) Schmerzgrenzen – was Genscher und Otto Graf Lambsdorff dann den Wechsel in die Regierung Kohl vorantreiben ließ.

Dieserart ist das Credo der FDP anschlussfähig an sozialdarwinistische Haltungen, wie sie in den USA unter „Reganomics“, in Großbritannien unter „Thatcherismus“ und hierzulande als „Agenda 2010“ erfahrbar wurden. Mit Beginn der Amtszeit von J. Möllemann begann der Rückweg in eine „deutsch-nationale“ Ausrichtung, Westerwelle addierte den Antisemitismus und Christian Lindner sucht, etwa in Thüringen, offen den Anschluss an die AfD. So schließt sich der Kreis: Die „Steigbügelhalter“ und Profiteure des Naziregimes hatten fünf Jahrzehnte Gelegenheit, uns ein auf Menschenfeindlichkeit beruhendes Gesellschaftsmodell als „alternativlos“ zu indoktrinieren.

Es ist in den Sozialwissenschaften unstrittig, dass Kooperationsfähigkeit und Empathie die tragenden Säulen für Beziehungen und für die menschliche Evolution sind und waren. Kinder lernen aus ihrer kompletten Abhängigkeit heraus nicht nur, wie sie Andere erreichen, sondern mit der Zeit auch, sich in diese hineinzuversetzen – vorausgesetzt, sie haben ausreichend gute Entwicklungsbedingungen. Hierzu gehören auch entsprechende Vorbilder.

Mit der über die „Aufklärung“ vermittelten „Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ etablierten sich auch Veränderungen in der Verantwortungsverschreibung: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ heißt eben auch, wer es nicht zum „Glück“ bringe, sei selbst verantwortlich. So etabliert sich etwa in England im 18 Jahrhundert das „sportliche“ Körperideal – zunächst als Distinktionsmerkmal des Adels, welches dann mit unterschiedlichen zeitlichen und kulturellen Verzögerungen auch Format wie „Germanys next Topmodel“ bestimmt.  Wichtig ist hier, dass es demjenigen, dem die erforderliche Selbstoptimierung (in den je spezifischen Moden) nicht gelingt, nicht auf die Unterstützung des Kollektivs setzen kann. Folglich braucht es etwa auch keine flächendeckende Gesundheitsvorsorge als Gemeinwohlaufgabe – in den Worten Thatchers: „There is no Thing as ‚society‘“. Verschärft wurde diese Sicht auf „Eigenverantwortung“ im 19. Jahrhundert durch die aufkommende Genetik: Jetzt konnte „wissenschaftlich“ nachgewiesen werden, dass häufig da, wo der „Willen“ zu fehlen schien, tatsächlich „erblich bedingte“ Kräfte am Wirken waren. Die Träger:innen dieser ungünstigen Eigenschaften galt es von den „erblich geeigneten“ fernzuhalten, ihnen die Fortpflanzung unmöglich zu machen, oder – in letzter Konsequenz – sie für „unwert“ und „nutzlos“ zu deklarieren und der physischen Vernichtung zu zuführen. Eine Lesart, die nach dem 8.Mai 1945 in Deutschland verboten war, sich aber natürlich durch die personalen Kontinuitäten auf den Lehrstühlen und beim politischen Personal halten konnte.

Franz Münteferings (SPD), den Apostel Paulus bewusst falsch zitierende Äußerung bezogen auf „Harzt IV“- Empfänger:ingen, wer nicht arbeite, solle auch nicht essen, illustriert dies nachdrücklich. „Ballastexistenzen“ nannten die Psychiater und „Rassehygieniker“ und mit ihnen die Nazis Menschen die nicht in die Formen der „bürgerlichen Gesellschaft“ passten – auf Grund von Handikaps, als „Alleinerziehende“, aus Familien mit transgenerativ weiter gegebener Armutserfahrung, oder anderweitig belastet, stammend. Dieses Menschenbild – und das sollte uns allen klar sein, steht hinter der Sanktionspraxis etwa bei „Hartz IV“-Bezug. Die FDP und Teile der CDU drehen hier den gesellschaftlichen Diskurs nun seit 30 Jahren in eine Richtung, die eindeutig menschenfeindlich ist. Bei der Union sind die „Sozialausschüsse“ in der Bedeutungslosigkeit versunken, SPD und GRÜNE haben – zur Schande dessen, was sich als „linke“ Politik ausgibt – den Mythos vom Primat der Ökonomie längst als Teil ihrer korrumpierten „politischen DNA“ übernommen.

Es folgen, à la longue, nicht nur „abgestimmte“ Versicherungstarife (und ärztliche IGeL-Leistungen für die auf der „Resterampe“). Bildung wird von „Persönlichkeitsentwicklung“ abgekoppelt und dient der Herausbringung der „High-Performer“. Für den nicht vermeidbaren „Rest“ der Gesellschaft gibt es zwei Varianten des „Föderns und Forderns“: Jene, die weitgehend das Tempo nicht mitgehen können, werden in „Hartz IV“ einem suizidfördernden Unterwerfungsregime ausgeliefert. Diejenigen, die sich irgendwie im „Mittelfeld“ zu halten können, wissen um die wirtschaftliche und soziale Vernichtung durch das „Hartz-Regime“ und verzichten derart diszipliniert auf emanzipatorische Forderungen oder gesellschaftliches Engagement – unterwerfen sich letztlich. Das sinnstiftende Narrativ durch „Börse vor Acht“ und andere Formate vermittelt, suggeriert allerdings, man könne immer zu den Gewinnern gehören und es handele sich bei den abbildbaren gesellschaftlichen Phänomenen mittelbar um „Naturkräfte“ – eben die der „Natur der Finanzmärkte“ und nicht etwa um „Klassengegensätze“, die es politisch anzugehen gelte.

Die Jugendhilfe nähert sich unter dem Regiment der „Evaluation von Effektstärken“ wieder dem Gnadenrecht, ähnlich wie in Psychotherapie und Psychosomatik setzt man auf verhaltenstherapeutisch inspirierte Dressurprogramme – jene, die sich hier nicht anpassen können, gelten als „psychiatrische Fälle“, denen nur medikamentös beizukommen ist. Und die Neurobiologie und Neuropsychologie weisen, ähnlich der „Humangenetik“ schon wieder Elemente der alten „Eugenik“ auf.

Die Polizei wird „kaufmännisch geführt“: Die Folgen sind Personalabbau und – der knappen Ressourcen wegen, Aufblähen der Videoüberwachung und der G 10-Anträge – der verantwortungsbewusste Bürger nimmt dies hin, weiß er doch seit Metternich, dass derjenige, der Nichts zu verbergen hat, Nichts zu befürchten habe. Die Verlagerung und Verringerung der Lebensmittelüberwachung wiederum stärkt das Verantwortungsbewusstsein der Unternehmer von „Wilke-Wurst“ bis „Wiesenhof“ und wem die Rente nicht ausreicht, der findet ein Plätzchen in Bulgarien. Letztlich dient die Legende von der „schwäbischen Hausfrau“ dazu, eine „Schuldenbremse“ für verfassungsgerecht zu bewerben, die in der vorgeblichen Sorge um die Rente der Enkel in ferner Zukunft den Tod von Menschen heute in Kauf nehmen lässt – als dem Gemeinwohl dienend.

„Börse vor Acht“ ist nicht der Dreh- und Angel-Punkt der Wirksamkeit der wirtschaftsliberalen Erzählung. An ihrer Vermittlung sind viele Bedingungen und Akteur:innen beteiligt: Es beginnt morgens mit den Rundfunknachrichten – sowohl mit der Auswahl dessen, was berichtenswert erscheint, bis hin zur Ausgestaltung der Meldung selbst, etwa, wenn in letzter Zeit von „Corona-Toten“ die Rede war, obwohl „Covid-19“ in der Regel lediglich ein Faktor in der Leidensgeschichte der akut Verstorbenen darstellte.

Aber auch dies ist nur ein kleiner Baustein in der Rahmenerzählung von der „Alternativlosigkeit“: Wir werden in einem Schulsystem sozialisiert, dass die Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts abbildet und – allen „Bildungsreformen“ zum Trotz – weiterhin Ausschlüsse für Kinder von Arbeiter:innen oder Migrant:innen produziert. Und während wir noch den Kopf schütteln ob der Hartnäckigkeit, mit der „Frauenquoten“ in Wirtschaft und politischen Apparaten abgewehrt werden, entgeht uns faktisch, dass die Diskriminierung und Abwertung sich in den Arbeitsbedingungen und Gehaltsstrukturen der Care-Berufe sehr direkt und brutal zeigt. Vom „Rosa-Überraschungsei“ bis zum „Dieselskandal“: Wir akzeptieren faktisch täglich, dass zwischen den vollmundigen Versprechungen der „Gleichheit“ und der Realität eine große Lücke klafft. Ja, wenn wir uns regelmäßig informieren, wissen wir sogar, dass diese – „Gerechtigkeitslücke“ genannt – immer weiter aufklafft. Aber wir bleiben still.

Wir ähneln darin Kindern, die in den magischen Momenten, die wir alle kennen, etwa glauben, dass unwirtliche, böse Momente – unser Fehler vielleicht – ungeschehen, unsichtbar sein möge. Wenn wir nur gaaaanz fest die Augen schließen!

Und so wie das magische Denken der Kinder, der Glaube an „Weihnachtsmann“ oder „Osterhase“ dadurch aufrechterhalten wird, dass Familienrituale etwa rund um den Weihnachtsabend verlässlichen Mustern folgen, bestärken uns Formate wie „Börse vor Acht“, die Schulbücher, die blaue Kinderkleidung in der Ewigkeit und Unveränderbarkeit dessen, was „gesellschaftliche Wirklichkeit“ scheint – die doch eine „hergestellte Realität“ ist.

Im Grunde vermittelt uns doch die „Corona-Krise“ einen Eindruck davon, dass einfache und klare Antworten und Lösungen oft schlicht nicht vorhanden sind: Das Wissen über das Virus ist relativ gering. Resultierende Handlungsanleitungen beziehen sich daher auf relativ unsichere Modelle, was deren Vorhersagekraft und Lösungsansätze angeht. Das aber ist genau die Grundaufgabe von Modellen: Handlungssicherheit zu vermitteln. Nur das uns – etwa in der Schule, der Psychologie, der Medizin – vorgegaukelt wird, das was da modellhaft beschreibbar ist, sei „Realität“. Aber natürlich bin ich auch subjektiv dankbar, wenn etwa eine mich behandelnde Ärzt:in mir Sicherheit darüber vermittelt, dass sie (innerhalb des Models) eindeutige Handlungen ableitet – und damit mich und sich vergessen lässt, dass etwa die statistische Basis (modern „Evidenz“ geheißen) widersprüchlicher ist, als es meiner momentanen Angst guttäte.

Nun sind solche Entscheidungen die persönliche Eindeutigkeit fordern, zum Glück selten – wir könnten also aus der „Corona-Zeit“ lernen, mit den Widersprüchen in der Welt zu leben – „Ambiguitätstoleranz“ heißt das psychologische Stichwort hierzu. Nachdrücklich gilt also „Krise als Chance“ – sei es bezogen auf die Fähigkeit mit Nicht-Wissen und Widersprüchen zu leben, sei es, weil wir neuerdings kontemplativ Schlange stehen lernen und auf diese Weise neu erfahren, wie „Entschleunigung“ auch sein könnte.

Das Thema „Geld“ wird uns – verbunden mit der Frage nach den politischen Perspektiven weiter beschäftigen. In Zeiten, in denen das „Bruttoinlandsprodukt“ (BIP) Ausdruck für einen gelungenen gesellschaftlichen Zustand gesehen wird und nicht etwa ein Maß wie das „Bruttoglücksprodukt“ als Indikator verwendet wird, kann man mit einem Zitat von D. Adams aus „Per Anhalter durch die Galaxis“ beschließen:

„…Dieser Planet hat – oder besser gesagt, hatte – ein Problem: die meisten seiner Bewohner waren fast immer unglücklich. Zur Lösung dieses Problems wurden viele Vorschläge gemacht, aber die drehten sich meistens um das Hin und Her kleiner bedruckter Papierscheinchen, und das ist einfach drollig, weil es im Großen und Ganzen ja nicht die kleinen bedruckten Papierscheinchen waren, die sich unglücklich fühlten. Und so blieb das Problem bestehen…“

(D. Douglas Adams; Per Anhalter durch die Galaxis, Zweitausendeins, 1981, S.7)

Also: In einem nächsten Schritt wird es also darum gehen, dass „Hin und Her“ um die „bedruckten Papierscheinchen“ weiter zu dekonstruieren und eine neue sinnstiftende Erzählung für eine Gesellschaft „nach Corona“ zu entwerfen – und ein paar Anwendungsideen zu entwickeln.

https://de.wikipedia.org/wiki/Anja_Kohl

https://www.tagesspiegel.de/politik/debatte-um-arbeitslose-kein-recht-auf-faulheit/217442.html

https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Arbeitslosengeld-II-Schleichendes-Gift-fuer-die-Psyche/Franz-Muentefering-Wer-nicht-arbeitet-soll-auch-nicht-essen/posting-30189808/show/

https://de.wikipedia.org/wiki/Stunde_Null

https://www.bpb.de/apuz/271679/kleine-ereignisgeschichte-der-waehrungsreform-194

https://www.wikiwand.com/de/Deutschland_1945_bis_1949#/Wirtschaft

https://www.deutschlandfunk.de/ulrike-herrmann-deutschland-ein-wirtschaftsmaerchen.1310.de.html?dram:article_id=460297

https://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/fdp/273478/geschichte

https://de.wikipedia.org/wiki/Freiburger_Thesen

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/rosa-ueberraschungs-ei-feministen-beschuldigen-ferrero-der-verdummung-von-maedchen-1.1445761

Solidarität…?

 „Solidarität“ ist ein Zauberwort der Stunde. Frank Walter Steinmeier, der sich wie es scheint, vom „Agenda 2010“ Hardliner zu emanzipieren vermocht hat, führt es genauso im Munde wie die Kanzlerin. Aber was verbirgt sich dahinter? Wie und zu welchem Zweck wird der Begriff im (sozialpolitischen) Diskurs genutzt? Warum „Börse vor Acht“ eine Form der „Teletubbies“ für Erwachsene darstellt.

Durch Frankfurt zu gehen fällt mir im Moment schwer: die Atmosphäre hat etwas Unwirkliches, Bedrohliches und erinnert mich an die Zeit unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe von „Tschernobyl“. Damals war die „Quarantäne“, so man sie für nötig hielt, „freiwillig“, in meiner Erinnerung beschränkten sich die Vorsichtsmaßnahmen auf die Teile der Bevölkerung, die der Nutzung der Kernenergie skeptisch bis ablehnend gegenüber standen. Nennen wir es die „Szene“: Menschen, die ihre Kinder von den Spielplätzen fernhielten, noch bewusster auf die Herkunft von Nahrungsmitteln achteten und sich in den Cafés und Kneipen des Nordends, Bornheims und anderen Stadtteilen und Gelegenheiten über ihre Befürchtungen und politischen Perspektiven austauschen konnten. Heute geht die Bedrohung nicht von einer Strahlung aus, nicht allein die Gegenstände können kontaminiert sein, sondern die Menschen sind es, die ich meiden sollte. Die Orte der Begegnung und gefüllten Solidarität, mittlerweile auch von den Kindern und Enkeln genutzt, sind gesperrt und damit entfällt diese Möglichkeit der Erfahrung eines „Miteinanders“ welches praktisch in den virtuellen Raum verdrängt wird.

Wenn ich an diesen Orten – denen, die die Zeiten mit mir überstanden haben, jene, die neu dazukamen – vorbei gehe, auf die verschlossen Türen oder die entsprechenden Seiten im Internet schaue, frage ich mich traurig, welcher dieser Orte den momentanen Einbruch des sozialen Lebens wird wirtschaftlich überstehen können. Die Liste derer, die bitten, sie in dieser Situation solidarisch zu unterstützen, wird täglich länger und mit steigender Erkenntnis, dass der Zustand, den wir „Lockdown“ zu nennen lernen, noch länger anhalten wird, steigt die Bedrohlichkeit. Und mit ihr die Gewissheit, dass eine ganze Reihe dieser Teile meiner Lebenswelt nach der Wiedereröffnung des öffentlichen Lebens nicht mehr da sein werden. Auch weil in Abhängigkeit von der Vielzahl der Bedarfe über einen langen Zeitraum auf Grund fehlender persönlicher Ressourcen diese Überlebenshilfe eben im „Crowd-Funding“ in der Summe einfach die individuellen Möglichkeiten übersteigt.

Wie lässt sich „gelebte Solidarität“ realisieren, wie die Bereitschaft, sich solidarisch zu verhalten, sich so zu organisieren, dass sich das „Miteinander“ nicht angesichts der schieren Notwendigkeiten erschöpft. Auch damit diejenigen, die solidarisch handeln – auch von Berufs wegen – nicht nach der Krise ausgebrannt sind – und wir dann eventuell auch noch erkennen müssten, dass die beschworene, die politisch geforderte „Solidarität“ tatsächlich Zielen und Strukturen galt, die dem eigenen Leben, den eigenen Wünschen und Notwendigkeiten fern stehen. Wer meint also „was“, wenn von „Solidarität“ die Rede ist?

Auch ohne die jetzt vorgetragenen Forderungen scheint es ja eine Menge „Solidarität“ in unserer Gesellschaft zu geben: Es waren überwiegend freiwillige Helfer:innen, die 2015 die Geflüchteten Menschen an den Bahnhöfen empfangen haben und oft danach auch weiter versorgten. Menschen machen Krankenpflegeausbildungen, obwohl die Arbeitsbedingungen seit vielen Jahren „unterirdisch“ sind, ohne das Engagement vieler Einzelner gäbe es keine „Tafeln“. Letzteres Beispiel ist auch deshalb interessant, weil – ich meine es war Jens Spahn –  die Existenz der Versorgungsmöglichkeit via „Tafel“ als Beleg für die Funktionsfähigkeit des „Sozialstaates“ öffentlich gepriesen wurde. Ohne dass freilich dazu gesagt wurde, dass das schlichte Angewiesensein auf dieses Angebot eben gerade darauf verweist, dass nicht einmal mehr die Sicherung der nackten Existenz von Menschen als grundgesetzlich definiertes Merkmal unserer Gemeinschaft gesehen wird. Außer natürlich von denen, die dies schon immer so sehen. Diese wiederum galten Anderen bislang als „Gutmenschen“. Meinen Spahn und die NGOs dasselbe, wenn von „Solidarität“ die Rede ist?

Nur zur Erinnerung: Jens Spahn, der sich derzeit als „Krisenmanager inszeniert, war eine der politisch treibenden Kräfte was die Schließung von Krankenhäusern angeht, seine Nähe zur Gesundheitsindustrie hat ihm selbst ja auch ein einträgliches Zubrot gebracht. Jens Spahn und eine „Kehrtwende“? Sicher nicht! Jens Spahn inszeniert sich als „Macher“ (ähnlich wie M. Söder), steht aber z.B. den „Lebensschützern“ nahe: Seine Solidarität scheint also eher nicht den Frauen in Konfliktsituationen zu gelten. Auch sein bisheriges Wirken im Gesundheitswesen sehe ich ambivalent: Viel Bewegung, wenig tatsächliche Veränderungen: So ist er nicht alleine dafür verantwortlich, dass alle Bundesregierungen die Pandemieempfehlungen des RKI aus dem Jahre 2012 nicht umgesetzt haben, sein martialisches Auftreten derzeit scheint aber auch seine anfängliche Ignoranz den Frühwarnzeichen im Januar gegenüber verdecken zu sollen (Link zur Bundestagsdrucksache unten; ab S.5).

Bleiben wir noch einen Moment bei der Frage, wem wessen „Solidarität“ gilt. Wir erleben gerade umfängliche Rettungspakete: Bund und Länder schütten umfänglich Geld aus oder geben Kreditgarantien. Zu hören war auch schon, der Ausgleich der Folgen der „Corona-Krise“ könne letztlich so viel kosten, wie die „Deutsche Einheit“, hier gab es Schätzungen von circa 5 Billionen DM, auch wenn die offiziell kommunizierten Kosten weit darunter lagen.

Soloselbstständige und Kleinunternehmer:innen sollen ohne Bedürftigkeitsprüfung in den „ALG II“-Bezug gehen können – besser als „Hartz IV“ bekannt. Mal abgesehen davon, welche Zahlentricks auch die heutige Bundesregierung darauf verwandt hat, die grundgesetzlich verbürgte Möglichkeit der „Teilhabefähigkeit“ künstlich klein zu rechnen und damit auch Millionen von Kinder in der Armutsfalle zu belassen, so berücksichtigt dieser Ansatz die vielen Mini-Jobber, „Aufstocker“ und andere Bedürftige – überwiegend auch obdachlose Menschen nicht.

Sprich: Faktisch wird auch in diesen Zeiten zwischen denen unterschieden, die – „Corona“ wegen – „unverschuldet“ in Not geraten und jenen, die, der dem NS-Jargon entlehnten Wording von Schröder und Müntefering paraphrasiert folgend, „zu faul sind und daher auch nicht essen müssen“ (siehe Quellen unten). Hier gilt die „Solidarität“, wenn auch begrenzt, einer bestimmten Zielgruppe. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie, eben auch durch die von den unterschiedlichen Bundesregierungen beförderten Abwärtsspiralen des „Sozialstaats“ in den Niedriglohnsektor und in „Ich-AGs“ gezwungen wurden, d.h., sie hatten auch nie eine wirkliche Chance, krisenfest zu wirtschaften. Wollten wir tatsächlich den Art. 3 des Grundgesetzes mit Inhalt füllen, bliebe letztlich – zumindest temporär – nur die Einführung eines „Bedingungslosen Grundeinkommen“ (BGE). Weshalb temporär?

Eine solch massive Veränderung auf Zeit zu beschließen, scheint mir deshalb besonders wichtig, weil es in allen zukünftigen Veränderungen – mit dem Weg dorthin wird sich der nächste Text beschäftigen – darum gehen wird, sie breit zu diskutieren und für möglichst viele grundlegende Momente Formen der Konsensfindung jenseits und begleitend der parlamentarischen Form finden müssen – sei es etwa in Form von „Volksabstimmungen“. Ein weitere Grund an dieser Stelle ist, dass ich Bedenken gehört habe, etwa europarechtlicher Natur, die ebenfalls nicht im Rahmen eines „populistischen Move“ vom Tisch gefegt werden dürfen. Also: Jetzt Notfallmanagement notwendigerweise, aber mir klaren Perspektiven für die Zeit danach!

Die auch von Sozialdemokraten betriebene Entsolidarisierung hat, wie oben skizziert, das „Blaming“ der Betroffenen ist also ein Kernelement der bisherigen Herstellung gesellschaftlicher Konkurrenz, ein anderes ist der Disziplinierungseffekt auf Seiten der „Arbeitsplatzbesitzer“: Der soziale Abstieg durch Arbeitsplatzverlust ist eine unglaublich wirksame Drohung – vor allen Dingen auch, wenn man etwa die Schicksale von prekärer Tätigkeit oder Leiharbeit betroffener Menschen dann auch stets vor Augen geführt wird. Ein weiteres Element des „Framing“: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ ist ein nun viele Jahre eingepflegtes Format in der ARD, welches freilich nur symbolhaft für die Legende von der nötigen und möglichen „Fähigkeit zur Übernahme ökonomischer Eigenverantwortung“ steht. Eingefasst zwischen „Wetterbericht“ und „Tagesschau“ wird uns zur „Primetime“ die Börsenentwicklung nahe gebracht:

„Börse vor Acht“ etwa ist ein leicht zynisches Format: Eingepflegt im Rahmen des Börsengangs der „Telekom“, deren Papiere als „Volksaktie“ beworben wurden, flankiert durch den Umbau der Altersversorgung für den die Begriffe „Riesterrente“ und „Pflegeversicherung“ stehen, hat diese Sendung zur „Prime-Time“ das Scheitern das Platzen der „dot.com“-Blase überstanden. Die Börsenprofis benötigen diese Plattform nicht – uns, die wir zumeist kein Geld für Anlagen verfügbar haben signalisieren Anja Kohl und Ko. allabendlich, wie abhängig wir vom Geschehen an den Geldmärkten seien – und wie vergebens unser Bemühen weiterhin sein wird, auskömmlich Vorsorge zu treffen. Hatte Frank Lehmann noch eine gepflegte ironische Distanziertheit auf seiner Seite, regiert heute der „Bierernst“. Wenn es wirklich um Aufklärung wirtschaftlicher Sachverhalte ginge, täte Distanz Not – und es wäre mehr als angebracht, weitere Modelle und Vorstellungen zu vermitteln – genossenschaftliche Ideen, Allmende, Gemeinwohlorientierung. So ist dieses Format Nichts weiter als der „Transmissionsriemen“ für die Menschenfeindlichkeit der Finanzwirtschaft, wie sie in Reinform fast nur noch von Cristian Lindner, F. Merz und Co. bejubelt wird.

Also ergibt sich auch hier ein einfacher Veränderungsmoment für die Programmverantwortlichen der ARD: Mit Rücksicht auf „Werteunion“ und FDP, aber auch weiter Teil der Sozialdemokratie und der GRÜNEN scheint eine sofortige Absetzung dieser Sendung nicht geboten – schon um einen „kalten Entzug“ zu vermeiden. Aber es wäre schnell möglich, weitere Expertise einzupflegen – Themen sind oben genannt. Vielleicht könnte in einem ersten Schritt Ulrike Herrmann mehr oder minder regelmäßig etwas zur „Lebenslüge“ der „Sozialen Marktwirtschaft“ sagen (vgl. den verlinkten Artikel unten).

Die „Teletubbies“, um den anfänglichen Vergleich aufzugreifen, sind im Übrigen abgesetzt worden, weil sich herausgestellt hat, dass die „Sprache“ der Quietschefiguren untereinander negative Effekte auf die Sprachentwicklung der dreijährigen Zuschauer:innen hatte. Was für pädagogisch fragwürdige Formate im Kinderfernsehen gilt, sollten wir doch gegenüber uns „Großen“ umsetzen können – bei der Gelegenheit sollte dann auch über M. Lanz und „Hart aber Fair“ zu sprechen sein – aber dies ist ein anders Kapitel.

„…Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker…“ wurde einst Che Guevara zitiert. Tatsächlich ist die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli die Autorin. Da ich den Ursprungstext nicht kenne, bleibt es hier – wenn ich mich auf die Suche nach „Solidarität“ in Zeiten der Pandemie begebe – bei dem Aufmerken, dass Biografen scheinbar versucht haben, mittels falscher Zitation einem zwischenmenschlich wohl sehr unangenehmen Macho einen Anstrich von „Flower-Power“ zu geben.

Nun, sicher , so der Stand heute, endet die „Solidarität der Völker“ an den EU-Außengrenzen. Robert Habecks weihnachtlicher Vorschlag, umgehend die etwa 4000 Kinder und Jugendlichen aus „Moria“ herauszuholen, ist Ende Februar auf deren 300 Menschen für Deutschland verniedlicht worden – derzeit – so zitiert die „Tagesschau“ vom 29.03.2020 das Innenministerium, wolle man keine weiteren Infektionsgefahren nach Deutschland holen. Zur Erinnerung: Die Rede ist von „besonders schutzbedürftigen Personen“ im Sinne der Menschen- und Kinderschutzkonventionen, die auch die „Bundesrepublik“ gezeichnet hat.

Doch wir müssen, wenn wir von „Solidarität“ als Menschenrecht auch gegenüber „Fremden“ sprechen, ja nicht bis an die EU-Außengrenzen gehen:

Unter uns leben Menschen in „Sammellagern“, „Ankerzentren“ und anderen unwirtlichen Orten, weil der Asyl- oder „Flüchtlingsstatus“ sie dort festhält. In den Diskussionen auf politischer Ebene scheinen diese Menschen nicht vorzukommen. Man hat sie kaserniert, sie vegetieren in umzäunten Arealen vor sich hin, zur Untätigkeit verurteilt, Enge, Lärm und Gewalt ausgeliefert. Letztere ist eine erwartbare Folge der „Käfighaltung“ und teilweise auch eine Folge der Bewachungssituation und des Ausgeliefertseins an undurchsichtige „Helferstrukturen. Dies ist schon im „Regelalltag“ bedrückend und kaum zu ertragen, da diese Menschen ja vor Gewalt und Willkür geflohen sind – und auch hofften, den Lagern der jeweiligen Despoten in den Herkunftsländern zu entgehen. Doppelt schwer wiegen jetzt die Quarantänemaßnahmen, eben auch unter den beengten räumlichen und schwierigen hygienischen Bedingungen in vielen dieser Unterkünfte.

Nun, könnte man aber auch sagen – mit der Umsetzung von international verbürgten Schutzzielen hatte es dieses Land ja nie besonders eilig. Wie das Gezerre um die Verankerung des Kinderschutzes im Grundgesetz zeigt, wie der weitgehende Stillstand bei Bemühungen um die vollständige Teilhabe von Menschen mit Handikaps auf Basis der „UN-Behindertenkonvention“ ausweist, besteht schon im Binnenverhältnis den eigene Bürgern gegenüber – einmal sanftmütig formuliert: ein gewisser Verbesserungsbedarf. Schauen wir auf den Kinderschutz insgesamt, die Ausstattung der Jugendämter, die Finanzierung der Jugendhilfe und der Refugien für Menschen wie etwa die Frauenhäuser, sind wir insgesamt weit von ausreichenden Standards entfernt. Warum ist das so? Weil über viele Jahre hinweg jene, die jetzt auf der politischen Bühne „Solidarität“ einfordern, behaupten, ein den vielen Ansprüchen genügender Sozialstaat wäre nicht zu finanzieren. So werden die Gruppen der Anspruchsteller:innen gegeneinander ausgespielt. Dies entsolidarisiert die dergestalt Marginalisierten: Jene, die ein wenig bekommen müssen befürchten, dieses Anteils auch noch verlustig zu gehen, wenn sie gemeinsam mit anderen aufbegehren. Wie desinteressiert das politische Gemeinwesen sich verhält, kann man leicht am Umgang mit den Betroffenen nach dem „Runden Tisch Heimerziehung“ oder dem Langmut gegenüber den Kirchen, was die Entschädigungsansprüche der Menschen mit den vielfach dokumentierten Gewaltfolgen angeht, ablesen.

Ein Zwischenfazit: „Solidarität“ ist keine einheitlich gebrauchte „Ware“ – je nach Perspektive wird sie unterschiedlich realisiert:

Im Zwischenmenschlichen gibt es sie häufiger als die Bilder der Konkurrenzgesellschaft, zu der wir in Schule, Ausbildung und an Arbeitsstätten angehalten werden, nahelegen würde. Allerdings erschöpft sich diese, wie in den Zeiten nach der Versorgung der geflüchteten Menschen im Jahr 2015 gesehen, weil im Ehrenamt letztlich die Ressourcen fehlen.

Im politischen Diskurs ist der Begriff bisher dazu überwiegend genutzt worden, um zu verschleiern, das staatliche Aufgaben auf Ehrenamtsstrukturen umgeleitet wurden, oder um, etwa in Tarifauseinandersetzungen, Formen des „Lohndumpings“ zu legitimieren. In der Unternehmens- und Steuergesetzgebung wurde behauptet, die Interessen der „Wirtschaft“ seien deckungsgleich mit denen der breiten Bevölkerung, respektive letztere sei in der Pflicht – teilweise durch kollektiven Verzicht – dies mitzutragen.

Wir erleben, dass es „Solidaritätsberechtigte“ unterschiedlicher Art gibt – entlang der bisherigen Ausgrenzungs- und Zwangsstrategie gegenüber arbeitslosen Menschen (Stichwort: Fördern und Fordern), werden die Ausgrenzungsmuster auch auf andere marginalisierte Gruppen angewandt bzw. verschärfen sich diese Muster in der „Coronakrise“ noch. Ein Beleg findet sich auch in einem Urteil aus Konstanz zu „Hartz IV“ im Anhang.

Die Forderung nach „Solidarität“ ist eine zwiespältige: Zum einen gibt es – und dies ja nicht unberechtigt – grundsätzliche Zweifel an der Bindungswirkung des „sozialen Firnis“. In einer Gesellschaft die schon im Kindergarten mit einer Erziehung zur Konkurrenz beginnt und diese bis in die Sozialversicherungssysteme fortsetzt, ist dies kein Wunder. Deshalb wir „Solidarität“ im öffentlichen Raum ja auch durch die Polizei durchgesetzt und Verstöße geahndet (siehe auch den Beitrag zu Julia Zeh der im Anhang verlinkt ist; ein ausführlicheres Interview mit ihr war am 04.04.2020 in der SZ). Darüber hinaus erfüllt mich die Art und Weise mit Sorge, wie, mit welcher Geschwindigkeit und mit welcher Haltung der Bundestag, aber auch zumindest ein Länderparlament die Grundrechte in Frage stellen. Weder werden parlamentarische Überprüfungsmechanismen verbindlich vereinbart, noch wird eine verfassungsrechtlich ausreichende rechtliche Grundlage geschaffen – die Aktivierung der „Notstandsgesetzgebung“ scheut man aus verfassungsrechtlichen Bedenken heraus. Auch wenn in Deutschland keine Situation wie in Ungarn, Österreich oder Frankreich zu sehen ist, in denen die „Coronakrise“ genutzt wird, parlamentarische und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse durch „Dekrete“ zu ersetzen: Auch in Deutschland sind Menschen in politischer Verantwortung bei denen ich vermute, der demokratische Firnis ist „dünn“. Dazu zählen neben Horst Seehofer und Markus Söder auch Jens Spahn, Strobl, B. Rhein, B. Palmer und andere. Eine Erfahrung mit dem, was er gesellschaftliche Folgen einer katastrophengestützten „shock doctrine“ nennt, beschreibt Naomi Klein in dem im Anhang verlinkten Beitrag aus „The Guardian“.

Nun sollen die vorgestellten Überlegungen nicht solidarisches Handeln diskreditieren – es ging hier nur darum, die Ambivalenz dessen zu beschreiben, was entsteht, wenn „Solidarität“ politisch gefordert wird, Segregationsmechanismen nicht aufhebt, sondern verstärkt – und ordnungsrechtlich durchgesetzt werden, weil man dem sozialen Zusammenhang – nachvollziehbar – doch nicht traut.

Mit der Frage nach einer möglichen politischen Strategie gegenüber den zu erwartenden Dynamiken nach Ende der jetzigen Krise, möchte ich mich in einem nächsten Beitrag beschäftigen.  Aus meiner Sicht sollten wir aber die Zeit jetzt nutzen denn, abwarten allein hilft nicht – um Wolf Biermann zu zitieren:

Manche hoffen, dass des Flusses
Wasser nicht mehr fließen kann
Doch im Frühjahr, wenn das Eis taut
fängt es erst richtig an
Manche wollen diese Zeiten
wie den Winter überstehn
Doch wir müssen Schwierigkeiten
Bestehn! Bestehn! Bestehn

(Aus: Warte nicht auf bess´re Zeiten, Die Drahtharfe, 1965)

https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712051.pdf

https://www.tagesspiegel.de/politik/debatte-um-arbeitslose-kein-recht-auf-faulheit/217442.html

https://www.zeit.de/online/2006/20/Schreiner

https://www.deutschlandfunk.de/ulrike-herrmann-deutschland-ein-wirtschaftsmaerchen.1310.de.html?dram:article_id=460297

https://www.hartziv.org/news/20200403-sozialgericht-verweigert-hartz-iv-corona-zuschlag.html/amp?__twitter_impression=true

https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-juli-zeh-kritisiert-einschuechterung-der-buerger.1939.de.html?drn:news_id=1117437

https://www.theguardian.com/us-news/2017/jul/06/naomi-klein-how-power-profits-from-disaster?fbclid=IwAR1XzpkkC5jPpEjBaSwAYZV3AqUacoCwN26s0fKyz2pBgpkl3uLmRwfHLH4

Wenn die Nacht am tiefsten ist…

…ist der Tag am nächsten (Ton, Steine, Scherben). Zumindest für mich ein Song gegen die Ohnmacht der „bleiernen Zeit“ im „Deutschen Herbst“. Aber ist denn wirklich, wie der Dichter sagt, das Rettende nah, wenn die Not am Größten?

Delfine in den Kanälen von Venedig, zurückgehende Schadstoffbelastungen über China, für Klima und Umwelt scheint die „Coronakrise“ den Einschränkungen für Wirtschaft und Reiseverkehr wegen, eine Erholungspause mit sich zu bringen – es scheint so, als könne Deutschland auf diese Weise sogar die Klimaziele einhalten.

Mathias Horx und andere entwerfen Zukunftszenarios für eine ideale, solidarische Gemeinschaft, so als liefere die Pandemie ein „kathartisches“ Element, gleich der reinigenden Kraft des Fegefeuers. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Prepper und faschistische Kameradschaften wie „Nordkreuz“ und „Uniter“ die Krisen herbeisehnen, weil sie Massenpanik und Angst als Grundlage für einen Umsturz sehen. Lassen wir für den Moment einmal die rechten Umsturzfantasien beiseite, stellt sich doch die Frage, worauf sich die erstzitierten Hoffnungen stützen.

Natürlich kann man annehmen, dass Menschen zur Kooperation und Solidarität fähig sind und dies schon als Kleinkinder. Sucht man dieser Tage (Stand: 24.03.2020) als Senior:in auf der mittleren Bergerstraße in Frankfurt etwa Klopapier, könnten Zweifel aufkommen. Die Diskussionen um die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen aus den Lagern auf Lesbos, die Schwierigkeiten, solidarisches Denken und Handeln bezogen auf die drohende Klimakatastrophe einzufordern und entsprechende gesellschaftliche Veränderungen auf den Weg zu bringen, legen das Gegenteil nahe.

Und doch sind wir bereit, unter dem Eindruck der „Coronakrise“ Verzicht zu leisten, nehmen Einschränkungen unserer Bewegungsfreiheit hin, akzeptieren, etwa in Bayern, die Ausrufung des öffentlichen Notstandes. Die Begriffe die hier leitmotivisch sind, heißen: „Covid-19“ und „Coronatote“.

Judith Rackers hat in der „Tagesschau“ vom 23.03.2020 um kurz nach 20 Uhr die Coronaberichterstattung den Vortag zu den Fallzahlen mit der Zahl der „Coronatoten“  in Italien ergänzt, bebildert wurde diese Sequenz mit Archivaufnahmen eines Militärkonvois, der Leichen aus einem Hospital in Bergamo zu einem Krematorium bringe. Nun, zum einen kann man sich fragen, warum die materielle Information diese Bilder brauchte – zumal es sich, wie gesagt um schon mehrfach benutzte Archivaufnahmen handelte. Der „Frame“, der Rahmen des Beitrages war, wie gesagt, die „Coronakrise“. Die Dringlichkeit des Anliegens wurde durch eine suggestive Inszenierung unterstrichen: Militär-LKW signalisieren eine hohe Ausprägung des Notstandes, der Begriff „Coronatote“ Fragen von Leben und Tod. Nun, abseits der Schlagzeilen weisen alle mit den medizinischen Fakten vertrauten Fachmenschen darauf hin, dass letztlich das Corona-Virus in seiner spezifischen Auftretensform alle Gesellschaften gleichermaßen zu durchdringen scheint – und dies in hoher Geschwindigkeit, die Toten aber fast ausschließlich aus besonders vulnerablen Bevölkerungsschichten stammen: Alte und sehr alte Menschen aus dichtbesiedelten Gebieten mit hoher Luftverschmutzung und durch diese ausgelösten Atemwegserkrankungen, die in der Regel mit Herz- Kreislaufschäden einher gehen.

Der Erzählungsrahmen

Bleiben wir für einen Moment bei dem Phänomen des „Framing“, also der üblichen Strategie, Anliegen, Erzählungen in einen erwartbaren Kontext zu stellen, also zu „rahmen“. Ein illustrierendes Beispiel könnte so auftreten, dass nämlich ein Gast in einem Restaurant zu der Bedienung sagt: “Herr Ober, in meiner Suppe ist eine Fliege“. Antwortet der angesprochene Mensch mit: „Da haben Sie aber Glück, normalerweise meiden Fliegen unsere Suppe“, wird der narrativ angelegte Rahmen durchbrochen – darauf beruht der Witz. Aus der Perspektive des Gastes verhält sich der Kellner inadäquat – und dennoch hat dieser die Lacher auf seiner Seite, obwohl wir, aus der für die meisten von uns ja vertrauten „Gastrolle“ heraus, mit diesem solidarisch fühlen könnten.

Das „Framing“ im medialen und politischen Raum steckt die Möglichkeiten einer politischen Erzählung oder eines Diskurses ab, indem es die „angemessenen Sprachregelungen“, die zugehörigen Begriffe und auch den Rahmen festlegt, innerhalb dessen verhandelt werden kann: Wenn ich also mit der Begrifflichkeit „Coronatote“ eine lebensbedrohliche Gesamtsituation suggeriere und diese Behauptung mit Bildern eines Militärkonvois illustriere, liefere ich einen Bedeutungsgehalt, der „Notstand“ und entsprechende Maßnahmen nahelegt. Probeweise empfehle ich etwa die Sprachregelung (für Nachrichten und andere Kontexte): „Leider waren in der Region um Bergamo heute wieder viele Tote zu beklagen. Es handelt sich hierbei zu XY-Prozent um Menschen mit gravierenden Vorerkrankungen in hohem Lebensalter, die häuslich oder in den Pflegeheimen leider derart unterversorgt waren, dass sie erst in sehr fortgeschrittenem Stadium ihrer Erkrankungen, die teilweise auch auf die extreme Luftverschmutzung der Region zurückzuführen ist, in stationäre Behandlung kamen…“. Die toten Senior:innen, die einige Tage in einem spanischen Pflegeheime unentdeckt blieben, weisen weniger auf die „Coronakrise“ als auf Vernachlässigung und Verantwortungslosigkeit der Heimbetreiber hin.

Gesundheitsvorsorge

Bevor ich zu der Frage der möglichen Sinnfälligkeit der beschriebenen medialen Strategie komme, noch ein Beispiel dafür, wie mit einem entsprechenden Narrativ ein „Rahmen“ geschaffen wird: In der „Frankfurter Rundschau“ vom 24.03.2020 (s.u.) ist zu lesen, die Wiesbadener Kliniken, allen voran die „Horst-Schmidt-Klinken“(HSK) würden die Zahl der Beatmungsplätze stark erhöhen. Dieses Narrativ soll intensive Vorbereitung und Fürsorge suggerieren. Dies reflektiert die Zahlen, die darauf hinweisen, dass eine Vielzahl Erkrankter an „Akuten Lungenversagen“ versterben, also beatmungspflichtig werden (s. auch Zahlen des RKI im Anhang). Mal abgesehen davon, dass dem Vernehmen nach derzeit praktisch keine Beatmungsgeräte auf dem Markt sind, gehört zu einem Beatmungsplatz noch jede Menge anderes Gerät, dass wahrscheinlich auch nicht sofort zur Verfügung stehen wird – es sei denn, die jeweiligen Hersteller wir „HP“ geben ihre Patente frei und machen die Anstrengungen von VW und BMW, im Rahmen von Konversion Medizintechnik herzustellen, möglich. Viel gravierender ist ein anderes Problem: Beatmungspflege ist ungeheuer personalaufwendig und es bedarf Fachkräfte mit entsprechenden Spezialisierungen. In der Personalbemessung geht man von einer Quote von 2:1 aus, d.h., auf je zwei Betten entfällt eine Pflegekraft. Um dies vollschichtig zu ermöglichen braucht es für diese zwei Plätze mindestens sechs Spezialist:innen, hier sind aber keine Ausfälle kompensierbar – man geht von einer zusätzlichen vollen Stelle zur Kompensation aus – da wären wir also bei sieben Fachkräften (s. auch Foliensatz S. Quast im Anhang). Bei 34 zusätzlichen Plätzen in den HSK wären dies also 119 Vollzeitäquivalente. Rechnet man die in Care-Berufen übliche Teilzeitquote hinzu, reden wir von etwa 160 Personen mit mindestens dreijähriger grundständiger Berufsausbildung und hoffentlich einjähriger berufsbegleitender Zusatzqualifikation – wie soll das bitte gehen? Zumal europaweit die Krankenhäuser „auf der Felge“ gefahren werden, der „Pflegenotstand“ endemisch ist, weil seit 30 Jahren darauf gesetzt worden ist, dass man mit immer weniger Personal in den Häusern immer mehr Geld verdienen würde ( dazu auch Schreiben der Belegschaften aus Berlin im Anhang). Also „Augenwischerei“? Nein, so weit würde ich nicht gehen: Es ist auch der Versuch zu demonstrieren, dass Politik und Klinikbetreiber versuchen Vorsorge zu treffen und Ressourcen irgendwie zur Verfügung zu stellen. Insofern sind wir in Deutschland tatsächlich besser dran als im restlichen europäischen Ausland: In Italien, Spanien und Frankreich ist das Gesundheitswesen schon vor „Corona“ unter den von Deutschland maßgeblich verlangten Spardiktaten zusammengebrochen, der „öffentliche Sektor“ marginalisiert worden. Auch dies trägt zu der beschreibbar desolaten Situation bei.

Doch zurück zu Fragen des spezifischen „Corona-Framings“ über Opferzahlen:

Cui bono?

Nun – das „Framing“ schafft einen diskursiven Rahmen, dessen Sinn darin besteht, Notfallmaßnahmen treffen zu können, um „Leben zu retten“. Das führt – dadurch das „Leben retten“ ein hohes normatives Ideal ist – dazu, dass Kritiker:innen an Einzelmaßnahmen oder dem narrativen Framing entweder unterstellt wird, dass sie willens sind, Menschenleben zu risikieren, zynisch und empathielos mit den Opfern in Italien und Iran etc. umgehen, oder „Verschwörungstheoretiker“ sind. Selbst da, wo sich die Behauptungen belegen lassen und die Rechtswidrigkeit einiger Maßnahmen ja tatsächlich auch breit diskutiert wird (s. den Beitrag von K. Thorwarth im Anhang). Der beschriebene Rahmen soll in meinen Augen mehreren Zwecken dienen: Er vermittelt ein starkes Schutznarrativ, in dem jene, die für die „öffentliche Ordnung“ einstehen begründet zum Wohle Aller handeln (wer daran zweifelt stellt sich tendenziell außerhalb dieser Gemeinschaft). Der „starke Staat“ (als Synonym für den „wehrhaften Staat) vermittelt den etwa 25% der Bevölkerung, die gerade in Krisenzeiten eine „starke Führung“ suchen (man erinnere sich an entsprechende Studien von Adorno bis Heitmayer) das Gefühl, man überlasse sie nicht der Angst und dieser Staat zeigt exekutive Präsenz, er macht deutlich, dass er „Putsch- und Aufstandszenarios“ von rechts widerstehen will. Also alles zu unserem Besten?

Ich bin skeptisch: Jean Luc Nancy beschreibt, eine Gemeinschaft brauche konstitutive Erzählungen. Nun – und dies war ja die Eingangsfrage, wie könnte also eine Erzählung aussehen, die gemeinwohlorientiert, solidarisch, ökologisch, geschlechtergerecht – und der Forderungen mehr – ein gemeinsame Idee von Gesellschaft zu tragen im Stande ist. Ich meine: Sicher nicht auf Basis einer „militärischen Logik“. Es geht nicht um einen „Krieg“, den es zu gewinnen gelte, wie die Macrons, Contes, Orbans und Trumps dieser Welt suggerieren. Sondern es geht um eine Pandemie, wie wir sie zukünftig, eben auch unseres Raubbaus an der Natur wegen, häufiger haben werden. Für diese müssen wir zukünftig besser gewappnet sein – auch in dem wir in den Zeiten dazwischen (oder aus heutiger Perspektive: danach) die Ressourcen dafür schaffen. Um das Krankenhausbeispiel aufzugreifen: „Gesundheit“ muss als „Gemeinwohlaufgabe“ definiert sein, in einem ersten Schritt braucht es u.a. die Re-Kommunalisierung der Klinken und eine geänderte öffentliche Versorgungsstruktur. Dafür sei kein Geld da? Naja, das war das alte Lied: Olaf Scholz und die Seinen beweisen doch, dass dies ein „Märchen“ war, das Narrativ, das „Framing“ von der „Alternativlosigkeit“ und den „Kräften des Marktes“.

Packen wir´s an!

https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html

https://www.fr.de/rhein-main/wiesbaden/wegen-corona-virus-zahl-beatmungsplaetze-wiesbaden-fast-verdoppelt-13610933.html

http://www.schichtplanfibel.de/fachtag/beitraege-zur-tagung/susanne-quast-personalbemessung-intensiv.pdf

https://www.fr.de/politik/coronakrise-deutschland-sind-kontaktsperren-ausgangsbeschraenkungen-rechtswidrig-13611821.html

https://www.spiegel.de/kultur/corona-krise-befehl-von-oben-befehl-von-unten-a-291e1a0f-7465-440d-843e-8cfdb1c2a41f

Zahlenspiele

Pressekonferenzen des „Robert-Koch-Institutes“ haben auf mich eine grauenhafte Wirkung: Die materiellen Zahlen zur Ver- und Ausbreitung der „Covid-19“- Pandemie, zu den Betroffenen, den Toten, machen mich klein und ängstlich. Ähnlich geht es mir bei der Beschäftigung mit den diversen Nachrichtekanälen, gleich, ob sin um abonnierte, etwa auch französisch-, englischsprachige oder die „Tagesschau“ handelt. Aus dieser Ängstlichkeit heraus scheinen die dann vorgetragenen Maßnahmen zur Eindämmung dieses Ausbreitungsgeschehens logisch und angemessen. So folgerichtig, dass ich die damit verbundenen Einschränkungen, etwa die Beschränkung meiner Bürgerrechte, gutzuheißen oder zumindest hinzunehmen bereit bin. Erst ein kleiner Abstand, ein Innehalten – zu welchem ich mich jetzt geradezu zwingen muss – erlauben es mir, zum einen etwas distanzierter mit dem umzugehen, was mir, uns, an Zahlen präsentiert wird und zum zweiten: auch das Gefühl zu entwickeln, dass diese Zahlenkaskaden nicht nur etwas Einschüchterndes haben, sondern eben auch einschüchtern sollen. Der bedrückendste Topos hierbei ist der Begriff der „Coronatoten“:

Niemand von uns möchte, ganz gleich ob persönlich oder mittelbar, verantwortlich für den Tod Anderer sein. Auch nicht durch Unterlassen von Vorsichtsmaßnahmen. Für mich gilt in Zeiten wie diesen, als Teil dessen, was aus Alters- und Gesundheitsgründen „Hochrisikogruppe“ genannt wird, auch ein hohes „Passivrisiko“ durch Ansteckung durch andere, was ich letztlich nur durch entsprechendes Verhalten zu steuern versuchen kann. Also: Niemand möchte für den Tod von Mitmenschen verantwortlich sein, dafür nehmen wir die skizzierten Einschränkungen in der Regel in Kauf. Nur – etwas besonnener gefragt – was sind das für tote Menschen, die, um ein Beispiel zu nennen, in Bergamo mit Militärlastern aus der Stadt gefahren werden? Haben wir es tatsächlich mit einer Analogie zur „Pest“ zu tun, was die Kommentare über das einsame Sterben in den Institutionen oder zuhause suggerieren?

Bernd Hontschick hat in seiner Kolumne in der „Frankfurter Rundschau“ vom 21.03.2020 (s.u.) einige Zahlen zitiert. So gibt er die tägliche durchschnittliche Todesrate in Deutschland mit 2500 Fällen an. D.h., so viele Menschen sterben täglich an den Folgen von Erkrankungen, im Alter, an Unfällen, Folgen von Gewaltverbrechen – einige auch an Infektionen, die zumindest todesbegünstigend sind, manchmal auch todesursächlich, etwa wenn ein vorbelastetes Immunsystem mit dieser zusätzlichen Belastung der Infektion nicht mehr zu Rande kommt. An dieser Stelle spielen die jährlichen Grippewellen eine Rolle, viel mehr noch aber die 30.000 Menschen, die sich jährlich in deutschen Krankenhäusern infizieren. Wenn also heute etwa von 100 „Coronatoten“ die Rede ist, meint dies, vorbehaltlich dessen, dass Obduktionen nicht andere Ergebnisse zeitigen würden, dass 99 dieser Menschen ohne Zutun einer „Coronainfektion“ gestorben wären, einer dieser Menschen hätte ohne diese Belastung überlebt. Wobei bei auch bei den jüngeren Verstorbene, soweit die Obduktionsergebnisse kommuniziert wurden, gravierende, aber bis zu diesem Zeitpunkt unentdeckte Krankheiten festgestellt wurden. Warum verzichtet das „Robert-Koch-Institut“, verzichten die Medien auf diese Klarstellung?

Überhaupt: Wenn die so genannten „nosokomialen“ Infektionen, also solche, die während der Behandlung im Krankenhaus, etwa durch Hygienemängel, entstehen eine derart hohe Sterblichkeit nach sich ziehen: Wie konnte es zu diesen Zuständen – die letztlich höhere Todesraten als „Covid-19“ nach sich ziehen – kommen und warum stellt sich das Gesundheitssystem nicht entschieden dagegen? Einfach nur „zweierlei Maß“?

Datenerhebung

Auch andere Zahlenkolonnen werfen Fragen auf: Wenn Zahlen über die Ausbreitung referiert werden, auf welche Bevölkerungsstrukturen und-bedingungen beziehen sich diese? Also: Wer wird wann und wie getestet? Wenn etwa jede Person auf der Straße getestet wird, habe ich eine hohe Wahrscheinlichkeit, viele „Fälle“ zu identifizieren – was aber über die Krankheitsverläufe und die Sterblichkeit überhaupt Nichts aussagt. Wenn ich alle Menschen teste, die im Gesundheitssystem versorgt werden müssen, besonders dann, wenn ich vorzugsweise in Krankenhäusern und Alteneinrichtungen teste, habe ich ebenfalls hohe Durchdringungsraten und, der Vorbelastungen der betreffenden Personen wegen, auch hohe Mortalitätsraten – wobei für diese dann das Virus aber letztlich meist nicht letztursächlich ist. Statistische Verzerrungen ergeben sich auch daraus, dass die Infektionsraten in dichtbesiedelten Stadtteilen und Landstrichen, in Abhängigkeit und Armut und Hunger und damit auch in direktem Zusammenhang mit Ressourcen und Kapital unterschiedlich aussehen. Hier werden also im Extrem „Hungertode“ durch den Begriff der „Coronatoten“ kaschiert. All diese Erläuterungen gehören aus meiner Sicht dazu, wenn man „mit Zahlen Politik“ macht.

Und an dieser Stelle noch ein letztes Moment: Wenn davon gesprochen wird, „von Gestern bis Heute“ seien die Erkrankungszahlen um soundso viele Betroffene gestiegen, ist das „Augenwischerei“. Es müsste korrekt heißen: Wir haben im Zeitraum XY eine Zunahme als „positiv“ getesteter Personen gehabt – über deren Gesundheitszustand wir aber mit diesen Zahlen Nichts sagen können – wir spüren alle, dass dies den Nachrichtenwert deutlich schrumpfen lassen würde.

Eine letzte Bemerkung noch zu den „Zahlenspielen“: Die Zahlen von heute, sind die erfassten Personen von vor- oder vorvorgestern. Wir reden also über nachlaufende Summationen. Unter den oben beschriebenen Konditionen ist es sehr wahrscheinlich, dass die „aktuellen“ Zahlen das tatsächliche Ausbreitungsgeschehen „verzerrt“ abbilden: Im günstigsten Fall scheinen, auch der relativ langen Inkubationszeit wegen, die Zahl der „positiv Identifizierten“ zu steigen, der tatsächliche Peak ist aber erreicht und der Trend geht nach unten. Denkbar natürlich auch, dass selbst bei ausreichenden Verhaltensvorschriften sich dies erst mit einer entsprechenden Latenz von mindestens einer Woche abbildet. Suggeriert wird aber ein Handlungsdruck, der sich aus der „Aktualität“ der vorgestellten Ergebnisse ergebe. Dies ist pure Angstmacherei und Menschen wie Markus Söder müssen sich unterstellen lassen, dass sie tatsächlich andere Motive haben, aus denen sie den starken Ordnungsstaat puschen. Ein Schelm, wer hier nicht an das Rennen um die Kanzler:innenkandidatur bei den Unionsparteien oder Schlimmeres denkt.

Kalte Panik

Lassen wir einmal krude Verschwörungstheorien beiseite, bleibt dennoch die Frage, weshalb die Stimmen, die ähnlich oben Gesagtem argumentieren, so wenig gehört werden. Weshalb ermöglicht es die „Corona-Panik“ – neben „Hamsterkäufen“ der Einschränkungen von Freiheitsrechten – nun plötzlich das bis gestern noch als nicht hinterfragbare Mantra der „Schwarzen Null“ aufzugeben? Menschen, die dies mit der Notwendigkeit von Investitionen in öffentliche Infrastruktur gefordert hatten, die die Weisheit der Entschlüsse, diesem Credo Verfassungsrang zu zugestehen bezweifelt haben, galten gestern noch als „sozialistische Spinner“, die sich an der Zukunft der Kinder vergehen wollten. Noch schlimmer jene, die über gesetzliche Regulationen für den Wohnungsmarkt oder (Teil-)Verstaatlichung  von Unternehmen nachgedacht haben – heute geht dies Alles in unglaublicher Geschwindigkeit!

Natürlich stellt dieser neue Virus uns, die Gesellschaft, die Medizin im Besonderen vor neue Herausforderungen. Dies wird im Übrigen auf künftig gelten: Nicht umsonst hat die WHO vor Jahren schon entsprechende Pandemie-Strategien vorgegeben. Die Besiedelungsdichte in den Ballungsräumen und „Mega-Städten“ begünstigt die explosionsartige Ausbreitung, Hunger und Armut und zurückgehende öffentliche Versorgungsmöglichkeiten bilden weitere Nährböden. Die ausufernde Nahrungsmittelproduktion wird immer wieder Übergänge von Erregern zwischen Mensch und Tier mit sich bringen. Und dennoch hat, insbesondere wenn man den „politischen Raum“ auch als „symbolischen Raum“ betrachtet, die gesellschaftliche Reaktion auf „Covid-19“ eine „Mehrbedeutung“, die ich zumindest andiskutieren möchte:

In der letzten Woche las ich bei anderen Autor:innen den Begriff der „kalten Panik“. Dieser bezieht sich auf den gesellschaftlichen „Normalzustand“ der letzten Jahre: Wir wissen um die drohende Klimakatastrophe, die durch Hunger und Krieg verursachten Migrationsbewegungen und nehmen mit dem selben scheinbaren Gleichmut die ständig weiter aufklaffenden gesellschaftlichen Ungleichheiten hin. Wir sind, oben wurde es erwähnt, sogar bereit, den Ausverkauf von Gesundheitsdienstleistungen, unserer Krankenhäuser, an Aktiengesellschaften in Kauf zu nehmen, selbst wenn die Nachteile für unsere Versorgung gravierend sein könnten. Wir scheinen all dies nicht zur Kenntnis zu nehmen und statt uns an einem, möglicherweise auch intellektuell unterdurchschnittlich begabtem Verkehrsminister abzuarbeiten, gilt dieser Aufwand einer 16jährigen: Greta Thunberg.

„Kalte Panik“ meint einen Zustand, in dem dieses Wissen vorbewusst gesellschaftlich vorhanden ist, aber die Schwelle des Bewusstwerdens nicht überschritten werden darf, weil die Angst vor dem, was dann folgen würde als unbezwingbar scheint – unser gewohntes Leben wäre in Frage gestellt. Hieraus resultiert ein Spannungszustand, der auch dadurch bestimmt wird, dass der öffentliche Raum, die Nachrichten – alle relevanten Informationen dahingehend „gescannt“ werden müssen, ob sie geeignet sind, die kollektive Wahrnehmungsabwehr in Frage zu stellen oder zu durchbrechen. Für diesen Fall folgen entsprechende Abwehroperationen. Die können, wie wir gesehen haben, so stark sein, dass eine studierte Physikerin und ehemalige Umweltministerin ein dysfunktionales „Klimapaket“ als Meisterleistung und- wahrheitswidrig – als konform mit internationalen Konventionen anpreist. Wenn FFF, die „Gallionsfigur Greta“ also formulieren: I want You to panic“, dann zielt genau dies auf die fragile Abwehr und setzt entsprechende Abwehrdynamiken frei, die dann darauf zielen, diese Inhalte und Forderungen der Lächerlichkeit preiszugeben – oder zu vertagen.

Das Virus hingegen „knallt“! Es meint mich, Dich, uns, meine Großeltern, Kinder und Enkel! Es berührt meinen Abstand und die unmittelbare auch körperliche Kooperation mit anderen! Es ist unsichtbar, unmittelbar und unabweisbar! Der Pandemie, der eigenen Betroffenheit gegenüber nutzen die eingeübten ritualisierten Muster nicht mehr – sie durchbrechen zunächst den Schirm der individuellen wie kollektiven Abwehr und setzen neue Mechanismen in Kraft, die der Angstbewältigung dienen. Neben der Sinnfälligkeit vieler Maßnahmen, die wie Eingriffe in das Mietrecht, Aussetzung der Bedürftigkeitsprüfung bei „Hartz IV“-Anträgen, Kostenfreiheit in Teilen des ÖPNV – die schon immer sinnvoll gewesen wären, zeichnen sich die Abwehroperationen dadurch aus, dass sie überzogen und letztlich nicht rational begründbar sind – dies wird über die „Zahlenspiel“ und Interpretationen der Daten deutlich.

Auf einer symbolhaften Ebene könnte man, dem Vorbild des Pontius Pilatus folgend, auch vermuten, dass das empfohlene Händewaschen neben der hygienischen auch eine psychodynamische Regulationskomponente im Sinne der Schuldabwehr enthält. Es wäre spannend sich anzuschauen, wie das Horten von Klopapier in diesem Sinne zu bewerten sind.

Was bleibt? Auf jeden Fall die Erkenntnis, wieviel sich gesellschaftlich an den Rahmenbedingungen des Wirtschaftens und es Zusammenlebens bewegen lässt, wenn der politische Wille da ist. Inzwischen braucht es, wie ich meine, Zwischenrufe wie diesen hier, um die Proportionen zu beschreiben, Momente des Nachdenkens, des Aussteigens aus dem sich verdichtenden öffentlichen Diskursrahmen möglich zu machen.

Nehmen wir also den Beweis, dass zum Beispiel die „Schwarze Null“ kein Leitmotiv mehr sein kann mit in die politischen Entwürfe und Forderungen in der Zeit „nach Corona“ und vor dem nächsten Angstereignis.

https://www.fr.de/panorama/coronavirus-gesundheitsdiktatur-kolumne-13607799.html

Überflüge in Zeiten von COVID-19

Seit einigen Tagen kursiert unten beigefügtes Video in unterschiedlichen Variationen. Ich möchte dies aus meiner Sicht nicht unkommentiert lassen – auch weil ich glaube, dass Wodarg mit Vereinfachungen operiert, die ich für zumindest „schwierig“ halte und dem Diskurs, den wir brauchen, nicht gut tun können. Auch wenn man sich natürlich seine Claqueure nicht immer aussuchen kann: Die in den letzten Tagen bei KenFM und „Eva Herrmann“ gegebenen Interviews zum Thema scheinen mir zu belegen, dass Dr. Wodarg in seinem Sendungsbewusstsein auch in Kauf nimmt, von „Rechtsaußen“ vereinnahmt zu werden, respektive: Dies auch befördert.

Vorweg: Ich sehe viele Momente der materiellen Realität unter „Corona“-Zeichen kritisch. In welcher Geschwindigkeit Freiheitsrechte zur Disposition gestellt werden, „Marktbereinigungen“ stattfinden, wird uns noch lange nach dem Abklingen des jetzigen Peaks beschäftigen und es wird wahrscheinlich sehr anstrengend werden, andere Themen, etwa Ökologie, dagegen zu halten.

Zwei Beispiele: VW produziert seit Monaten auf Halde – der Produktionstop jetzt dient also auch dem Abbau von Überkapazitäten, wird dazu dienen, Zulieferer zu disziplinieren, die nicht das finanzielle Polster haben. Wenn es einen Rettungsschirm für Krankenhäuser gibt, dann auch für die Häuser der Aktiengesellschaften. „Helios“ hat eine Gewinnwarnung herausgegeben, weil sie auf Grund ihrer Personalpolitik keine Mitarbeiter:innen mehr finden, also Stationen schließen müssen. Nun sind „Asklepios“ und „Mediklin“ ganz ähnliche raubtierkapitalistische Kraken – wie verhindern wir, dass das eingesetzte öffentliche Kapital in Dividenden fließt? Lässt sich dieser Schritt als ein erster in Richtung auf Re-Kommunalisierung des Gesundheitswesens nutzen?

Doch zum Video: Ich gehe mit Wodarg in der Feststellung mit, dass „Corona“-Viren ubiquitär sind. Das ist aber nicht das Problem: Es geht um spezifische Mutationen und das hieraus resultierende Gefährdungspotential. Als Beispiel: Hunde und Wölfe sind beides „Caniden“ – von einem Dackel jedoch auf das Verhalten eines freilebenden Wolfes zu schließen, würde uns nicht einfallen.

Auch das Argument der unterschiedlichen Testungsweisen ist ein polemisches: Natürlich haben die Italiener höhere Fallzahlen, weil sie alles testen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Und natürlich wird das den Letalitätsindex, also die Zahl, die angibt, wieviel Todesfälle auf eine bestimmte Anzahl erkrankter Menschen (bezogen auf das jeweilige Krankheitsbild) verzerren. Das ist aber ein triviales Argument: Bei HIV sind die Menschen auch „im Vollbild“ und nicht „am Vollbild“ verstorben. D.h., todesursächlich waren letztlich andere Erkrankungen, häufig auch solche, mit denen ein gesundes Autoimmunsystem hätte umgehen können. Dennoch gibt diese extensive Testweise wahrscheinlich einen besseren Überblick über die Gesamtbelastung als selektive Testungen dies könnten. Die Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, auf großflächige Testungen zu verzichten – wie es z.B. der Werra-Meißner-Kreis derzeit tut und einfach davon auszugehen, dass jede:r gleichermaßen betroffen sein müsste, kann ich nicht beantworten.

Um zum Eingangsargument zurückzukehren – der Frage, ob „Corona“ nicht „zu uns“ gehört und wie wir zukünftig damit umgehen, ist nicht einfach zu beantworten, ich will es mit zwei Beispielen kurz diskutieren: HIV und Ebola.

Bei beiden überschneiden sich in der Epidemiologie, der öffentlichen Wahrnehmung und im Umgang vielschichtige medizinische, koloniale und rassistische Aspekte. Ich möchte es am Beispiel „HIV“ illustrieren: Es scheint Viren zu geben, die „autochthon“, bezogen auf bestimmte Gebiete, möglicherweise auch Spezies, „kreisen“: Einige von ihnen liefern wohl auch evolutionären Entwicklungsschübe, manche gehen auch zwischen Spezies „über“, d.h., sie bleiben nicht auf bestimmte Säugetierarten beschränkt. Für HIV lässt sich das ursprüngliche Verbreitungsgebiet einigermaßen eingrenzen: Erst die kolonialistische Rohstoffverwertungspolitik, die dadurch veränderte Form der Warenströme in Afrika und die mittelbar durch die imperialistische Politik beförderte Binnenmigration auf diesem Kontinent haben wohl zu einer großflächigeren Verbreitung geführt: So hat man aus archivierten Gewebeproben der Krankenhäuser in Kinshasa hochgerechnet, dass 1969 über 70% der damaligen Patient:innen positiv waren. Die „Bluternte“ und der „Sextourismus“ der 70er-Jahre haben zu einem massiven Übergang in die Länder des globalen Nordens geführt: Die Bedarfsdeckung für alle möglichen speziellen Blutpräparate, „gecrackte“ Teile des Serums hat dazu geführt, dass die europäischen Blutspender den Bedarf nicht decken können, also hatten Spender in den Slums von Nairobi etc. hierüber eine Einkommensquelle. Das war übrigens Anfang der 80er auch so darstellbar, hat aber in der öffentlichen Debatte um „HIV“ keine Rolle gespielt, sondern rassistischen Argumentationsmustern Platz machen müssen:

Die Identifikation eines schwulen Flugbegleiters als „Patient Nr.1“ hat zu einer massiven Stigmatisierung von Homosexuellen geführt, was aber noch unerträglicher ist: Das „Rote Kreuz“ in Deutschland und Frankreich, als „Provider“ von Blut und Derivaten marktbeherrschend, wusste von der Kontamination der Produkte, haben aber auf Testung verzichtet, weil gesetzlich nicht vorgeschrieben und zu teuer. D.h., Mensch – im Übrigen auch in meinem Umfeld – sind über verseuchte Konserven infiziert worden und gestorben, ohne dass dies ausreichend skandalisiert wurde, respektive zu einer Diskussion über die Sinnfälligkeit der Delegation solcher „Gemeinwohlaufgaben“ an „Private“ geführt hätte – mit Folgen bis heute.

Für „Ebola“ stellt sich das Bild ähnlich dar: Die Überfischung der küstennahen Gewässer, Rodung und Umwandlung von Wäldern in Palmölplantagen und andere Gründe haben dazu geführt, dass Siedlungs- und Ökosysteme in Bewegung geraten sind. Die Entwicklung von Impfstrategien und eines entsprechende Impfstoffes war lange unterblieben, weil nicht lukrativ genug. Beides ist erst geschehen, als deutlich wurde, dass mit einer letztlich nur militärisch durchsetzbaren Quarantäne-Politik der globale Norden nicht hinreichend geschützt werden könnte. Die neuerlichen Ausbrüche in der letzten Zeit hatten in Europa nur noch geringen Nachrichtenwert. Hier stand dann häufig im Vordergrund, dass die autochthone Bevölkerung Krankenhäuser und Isolierstationen überfallen und zerstört hat. Die Legende, dies geschehe, weil die „Krankheit“ als von den Kolonialherren böswillig verbreitet geschehe. Die Impfstrategien als Herrschaftsmittel zu betrachten, die kurativen Strategien als Teil der immer gleichen kolonialistischen und rassistischen Strategien zu sehen, scheint aus Sicht der Industriestaaten als propagandistisch beförderter Irrglauben gedeutet werden zu können. Die Anerkennung dieser Deutungsweise als berechtigte Folge eben der imperialistischen Herrschafts- und Aneignungspolitik – und damit als zumindest nachvollziehbar – zu sehen, bleibt hier untersagt und die Widerstände vor Ort werden als „Folklore“ deutbar. Was unterbleibt sind Strategien, die eben diese Kolonialgeschichte reflektieren und entsprechend sensible Aufklärungs- und Interventionsstrategien speisen

Was ich damit sagen will ist, dass wir nach der „Corona-Krise“ erst wirklich in den gesellschaftlichen Stress-Test geraten werden und es wichtig ist und bleibt, gute Argumente nicht mit „Verschwörungstheorien“ zu kontaminieren, in denen etwa die jetzige Pandemie als „Marketing-Strategie“ einiger Virologen und Konzerne denunziert wird. Das Beantragen von Fördermitteln und Sorgen um die notwendige Finanzierung von Testreihen, Personal usw. ist originäre Aufgabe einer Institutsleitung: Hieraus ein originäres Profitstreben abzuleiten, halte ich für mindestens fahrlässig, wenn nicht bösartig.

Wenn wir – und ich bin in der Tat der Meinung dass dies notwendig ist – die Bedingungen dieser Krise analysieren wollen und auch zur gesellschaftlichen Veränderungen im Sinne einer „Gemeinwohlorientierung“ beitragen wollen, sind wir in einer besonderen Verantwortung, was Fakten und Faktenchecks angeht.