„Börse vor Acht“ beweist allabendlich, dass es auch die Möglichkeit des „Sandmännchens für Erwachsene“ gibt – oder zumindest in der ARD die Erkenntnis, dass auch das Tagesprogramm des Bundesbürgers eine Abrundung braucht: Die Sendung nimmt uns mit in die Welt des Börsenparket. Doch schon die Behauptung, man sende aus der „Frankfurter Börse“ ist kontrafaktisch: Die Börse ist heute in Eschborn/ Taunus, nachdem die aktiennotierte Börsengesellschaft sich von der Stadt Frankfurt zu Dumpingkonditionen einen Neubau hatte erstellen lassen, lockte unmittelbar danach aber die Nähe zum vermögenden Taunuspublikum mehr, als die Fairness gegenüber der langjährigen und namensgebenden Heimat.
So wie die Rahmung der Sendung „Blendwerk“ ist, gilt dies auch weitgehend für ihr Aushängeschild: Anja Kohl, „Anchorwomen“ der Sendung, gilt als „Börsenexpertin“. Eine erstaunliche Bezeichnung für eine gelernte Germanistin, hätte ich an dieser Stelle doch eine Ökonomin vermutet. Aber es geht hier ja nicht um die Vermittlung ökonomischer Kompetenz, sondern, wie beim „Sandmänchen“ auch, um die Gelegenheit, innerhalb eines „Ritus“ eine Erzählung vorzutragen, die den Zuschauenden das Gefühl vermittelt, Alles sei gut, man kümmere sich und nun sei es Zeit, zum abendlichen Konsum über zu gehen. Kinder werden dann ins Bett gebracht, wir Großen dürfen uns dann mittels Filme der „Degeto“ – in eine Welt entführen lassen, in der es zumeist ein „Happy-End“ hat.
„Rotkäppchen“ – um ein Beispiel für die Wirkung eines rituellen Rahmens zu nutzen, war nicht einfach „nur“ ein Märchen: Die Märchenstunden hatte ihren festgelegten Rahmen, waren also Teil eines Sinnzusammenhanges. Und im Märchen selbst wurden Geschlechtsrollenstereotype, die Herrschaftsformen und andere gesellschaftliche Codes vermittelt. In Varianten, nicht in „Dauerschleife“, aber auf jeden Fall eingewoben in einen Sinnzusammenhang.
Diese Funktion einer „Märchenstunde“ übernehmen nun Anja Kohl und Co.: Sie unternehmen den Versuch einer „Sinnstiftung“, einer „Psychologisierung“ des Geschehens an den „Finanzmärkten“. Nicht unpersönliche Algorithmen, programmiert mit dem „Mind-Set“ der Gewinnmaximierung, spielen die Hauptrolle. Sondern – und das ist die Aufgabe der „Storyteller“ – vermittelt wird eine „menschliche Seite“ des Finanzgeschehens – es ist die Rede von „nervösen“, ja „scheuen“ Märkten. Mit der Aktie auf „Du & Du“.
Sieht man sich die umfänglichen Auftritte von Frau Kohl etwa vor illustrem Publikum an, so unterstreicht dies, dass Anja Kohl sich nicht in der Rolle einer Journalistin sieht, sondern Promotion macht: Sie „verkauft“ eine Ideologie, die Bill Clinton etwa so zusammengefasst hat: „It´s economy, stupid“.
Ein kluger Kopf hat einmal etwas zugespitzt gesagt, es sei schon ein interessantes Faktum, dass die wesentlichen Säulen dessen was heute als „Wirtschaftswissenschaften“ betrachtet werden, auf etwa vier DIN A 4-Seiten passten. Dies kann ich nicht beurteilen. Was aber scheinbar unwiderlegbar scheint, ist, dass dieses Wissenschaftsgebiet – und damit schlicht auch die resultierende Praxis – an den „Kathedralen der Ökonomie“ ohne grundlegende Theorien etwa von Riccardo, Adam Smith oder Karl Marx auskommen muss. Zumindest was die Vermittlung im universitären Rahmen angeht. Ralf Dahrendorf – FDP-Urgestein und auch als ehemaliger Leiter der „London School of Economics“ unverdächtig, ein „Umstürzler“ zu sein, hat in den 1990ern – meiner Erinnerung zu folge, sinngemäß formuliert, dass es ihm unverständlich sei, wie in den Wirtschaftswissenschaften etwa mit Marx´schen Grundbegriffen wie „Mehrwert“ hantiert werde. Dies sei deshalb kritisch, da er sehe, dass die ökonomische Theorie von Marx und Engels weder rezipiert werde, noch man sich die Mühe mache, sie widerlegen zu wollen. Mehr Schein als Sein also?
Spätestens vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass die Ökonomie zur unhinterfragten Leitwissenschaft aufsteigen konnte und wir faktisch einen Grundkonsens der „Alternativlosigkeit“ feststellen müssen. Obwohl es ja tatsächlich eine ganze Reihe von Konzepten zur vorgeblichen Dogmatik der „Kräfte des freien Marktes“ gäbe: Nehmen wir die Raiffeisenbewegung, andere genossenschaftliche Modelle, vielleicht auch Ansätze der „Gemeinwohlökonomie“ oder Diskussionen um „Allmende“ oder die Bewegung für den Übergang zu „Vollgeld“ etwa in der Schweiz, bis hin zu lokalen Währungen, wie sie etwa im Großraum Paris politisch geführt werden. Ist nicht „Meinungsvielfalt“ einer der Kernaufträge für die ARD als „öffentlich-rechtliche“ Institution?
Ich fasse zusammen: Das Vorabendprogramm der ARD im unmittelbaren Vorfeld der „Tagesschau“ folgt wochentags einer verlässlichen Abfolge. Dies lässt sich als einer „ritualisierte Form“ bezeichnen. Rituell strukturierte Rahmen suggerieren Sicherheit und Verlässlichkeit. Innerhalb dieser Form werden sinnstiftende Erzählungen vermittelt, die für die je zugrundeliegende Kultur von hoher Bedeutung sind. „Ökonomie“ wird innerhalb der Erzählung durch „Börse vor Acht“ nicht umfassend verstanden, sondern auf als „marktliberal“ zu bezeichnenden Modelle enggeführt. Sinn scheint die Indoktrination des Publikums zur „Prime-Time“ zu sein, um die „Alternativlosigkeit“ des „Primates der Ökonomie“ zu vermitteln.
Doch wozu das Ganze?
Ein Blick zurück, der lohnt: Mit der Zerschlagung der „Deutschen Bundespost“ nahm die Privatisierung von Gemeinwohlaufgaben Fahrt auf. Der künstlich erzeugte Hype um die Aktie der nunmehr „Telekom“ geheißenen Sparte galt als „Startschuss“ hin zu einem Umbau auch aller Sozialsysteme: Mit der Auflösung der DP, dem später gescheiterten Börsengang der „Deutschen Bahn“ gingen den Beschäftigten nicht nur soziale Vergünstigungen verloren, in der Folge wurde auch der gesamte Immobilienbestand der vormaligen Staatsbetriebe verkauft. Das „Volk von Aktionären“ war in der Folge auch gezwungen, privat für die Altersversorgung vorzusorgen, die Gesundheitsdienste wurden an Aktienkonzerne ausverkauft, die ambulanten Pflege „marktgerecht“ umgestaltet, um nur einige Beispiele zu nennen.
Der anfängliche Höhenflug der Telekom-Aktie heizte in Deutschland die Börsenspekulation auch mit Papieren von Start-Ups ohne ökonomische Substanz an. Der von Profis erwartete Crash – als „Dotcom-Blase“ in die Geschichte eingegangen, beendete diese Blütenträume. Hier hätte die Geschichte also enden können – möglicherweise hätten in der Folge stärker regulierte und am Gemeinwohl orientierte Aufsichtsmechanismen auch den acht Jahre später erfolgten Finanzcrash verhindern können – aber das ist ein weiteres Thema.
Hier geht es erst einmal darum, dass das Format – 2000-2012 noch „Börse im Ersten“ geheißen – aus der Taufe gehoben wurde, um dem Scheitern der „Volksaktien-Träume“ ein Narrativ zu unterlegen, das der Geldvernichtung für die Mehrheit der Kleinanleger unmittelbar davor eine Sinnstiftung vermittelte. Es ging also darum, die die Erzählung vom Gemeinwohlnutzen der „unsichtbaren Hand des Marktes“ für uns als Gemeinschaft zu retten um die weiteren Schritte der „Privatisierungsorgien“ widerspruchsfrei als „zwingend“ vermitteln zu können.
Wer hat nun etwas davon – wenn es die Allgemeinheit ja offensichtlich nicht ist?
Ich denke, an dieser Stelle muss man weder die Geschichte der Ökonomie und der Globalisierung ausführen noch auf Netzwerktheorien zurückgreifen – auch wenn natürlich das allseits einsatzbereite Personal von „Goldman & Sachs“ und die Netzwerker:innen der „Hayek-Gesellschaft“ und andere irgendwann prominente Rollen einnehmen. Für unsere Zwecke reicht ein spezifisch auf deutsche Verhältnisse beschränkter historischer Abriss:
Die „junge Bundesrepublik“ war angetreten, aus den „Fehlern“ der „Weimarer Republik“ zu lernen – so die Legende. Zu dieser Erzählung gehören auch die Beschreibung einer „Stunde Null“ und die Verbeugung vor Ludwig Ehrhard als dem Erfinder der „Sozialen Marktwirtschaft“. Der erste Begriff steht als Metapher für die „Tabula Rasa“, den kompletten Neubeginn der deutschen Gesellschaft nach der Kapitulation 1945, zweiter für die gelungene Versöhnung von „Kapital und Arbeit“. Beides habe gewissermaßen zu einer „Befriedung“ der Nachkriegsgesellschaft beigetragen und auf diese Weise seien die scharfen Klassenauseinandersetzungen der „Weimarer Zeit“ in einen repräsentativ-parlamentarischen Diskurs überführt worden. Hierüber sei auch die Öffnung der SPD für eine marktwirtschaftliche Haltung erst möglich gewesen.
Beide Erzählungen können nicht unwidersprochen bleiben: So hatten große Teile der Anlagevermögen – etwa industrielle Fertigungsmöglichkeiten, Immobilien und Grundstücke – den Krieg relativ unbeschadet überstanden. Die Rückabwicklung der mittels „Arisierung“ geraubten vormals jüdischen Besitzern gehörenden Werte fand nicht statt, die „Währungsreform“ verstärkte die Restauration zu Gunsten der schon den faschistischen Staat ehedem finanzierenden Kreise noch. Dieser fehlende Wandel – auch befördert durch das nachlassende Interesse der Alliierten an der „Entnazifizierung“, bildet sich natürlich auch über Personen und deren Biografien ab: So hat Ludwig Ehrhardt schon zu NS-Zeiten ein Wirtschaftsprogramm entworfen, dass in groben Zügen, inclusive des durch die „Währungsreform“ verursachten Kapitalschnitts für die breite Bevölkerung, eine Wirtschaftspolitik enthält, die als „Soziale Marktwirtschaft“ gelabelt wurde. Neben ihm und Hermann Abs in der „Deutschen Bank“ und anderen Profiteuren der NS-Wirtschafts- und Verwaltungspolitik bestimmten also die „Kriegsgewinnler“ im Wesentlichen die Erzählung bezüglich dessen, was als „Wohlstand für Alle“ politisch vermarktet wurde. (Literaturvorschläge am Ende des Beitrags)
Wir überspringen die Zeit des „Wirtschaftswunders“ und auch die beginnenden Verteilungskämpfe, die dann zur Ablösung Ehrhards, zur „Großen Koalition“ und danach zu in die „sozial-liberale“ Koalition unter der Kanzlerschaft Willy Brandts führten. Es geht in diesem Zusammenhang ja um die Frage nach der Sinnhaftigkeit und Wirkmächtigkeit des auch durch „Börsen vor Acht“ gepredigten Mantras. Das rechtfertigt die Verkürzung, damit der Blick auf die Rolle der FDP frei wird.
Grob gesagt folgte die FDP in den Gründerjahren der BRD „nationalliberalen“ Denktraditionen aus den „Weimarer Zeiten“, mit denen sie anschlussfähig an das Ideenpotential von NS-Anhängern wurde. Folgerichtig war die FDP-Bundestagsfraktion ein Sammelbecken ehemaliger NSDAP-Mitglieder. Dies änderte sich erst gegen Ende der 1960 Jahre – was den Weg frei machte für die Reformkoalition Brandt-Scheel. Ausdruck hierfür waren dann die „Freiburger Thesen“. Diese Epoche dauerte bis gegen Ende der 1970er Jahre – schon die Regierung Schmidt ließ sich bereitwillig wieder in Richtung eines „negativen Freiheitsbegriffs“ manövrieren, der jedwede staatlich vermittelten Regulierungen als Eingriff in die Freiheitsrechte sieht. Doch selbst die Sozialdemokraten hatten (damals noch) Schmerzgrenzen – was Genscher und Otto Graf Lambsdorff dann den Wechsel in die Regierung Kohl vorantreiben ließ.
Dieserart ist das Credo der FDP anschlussfähig an sozialdarwinistische Haltungen, wie sie in den USA unter „Reganomics“, in Großbritannien unter „Thatcherismus“ und hierzulande als „Agenda 2010“ erfahrbar wurden. Mit Beginn der Amtszeit von J. Möllemann begann der Rückweg in eine „deutsch-nationale“ Ausrichtung, Westerwelle addierte den Antisemitismus und Christian Lindner sucht, etwa in Thüringen, offen den Anschluss an die AfD. So schließt sich der Kreis: Die „Steigbügelhalter“ und Profiteure des Naziregimes hatten fünf Jahrzehnte Gelegenheit, uns ein auf Menschenfeindlichkeit beruhendes Gesellschaftsmodell als „alternativlos“ zu indoktrinieren.
Es ist in den Sozialwissenschaften unstrittig, dass Kooperationsfähigkeit und Empathie die tragenden Säulen für Beziehungen und für die menschliche Evolution sind und waren. Kinder lernen aus ihrer kompletten Abhängigkeit heraus nicht nur, wie sie Andere erreichen, sondern mit der Zeit auch, sich in diese hineinzuversetzen – vorausgesetzt, sie haben ausreichend gute Entwicklungsbedingungen. Hierzu gehören auch entsprechende Vorbilder.
Mit der über die „Aufklärung“ vermittelten „Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ etablierten sich auch Veränderungen in der Verantwortungsverschreibung: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ heißt eben auch, wer es nicht zum „Glück“ bringe, sei selbst verantwortlich. So etabliert sich etwa in England im 18 Jahrhundert das „sportliche“ Körperideal – zunächst als Distinktionsmerkmal des Adels, welches dann mit unterschiedlichen zeitlichen und kulturellen Verzögerungen auch Format wie „Germanys next Topmodel“ bestimmt. Wichtig ist hier, dass es demjenigen, dem die erforderliche Selbstoptimierung (in den je spezifischen Moden) nicht gelingt, nicht auf die Unterstützung des Kollektivs setzen kann. Folglich braucht es etwa auch keine flächendeckende Gesundheitsvorsorge als Gemeinwohlaufgabe – in den Worten Thatchers: „There is no Thing as ‚society‘“. Verschärft wurde diese Sicht auf „Eigenverantwortung“ im 19. Jahrhundert durch die aufkommende Genetik: Jetzt konnte „wissenschaftlich“ nachgewiesen werden, dass häufig da, wo der „Willen“ zu fehlen schien, tatsächlich „erblich bedingte“ Kräfte am Wirken waren. Die Träger:innen dieser ungünstigen Eigenschaften galt es von den „erblich geeigneten“ fernzuhalten, ihnen die Fortpflanzung unmöglich zu machen, oder – in letzter Konsequenz – sie für „unwert“ und „nutzlos“ zu deklarieren und der physischen Vernichtung zu zuführen. Eine Lesart, die nach dem 8.Mai 1945 in Deutschland verboten war, sich aber natürlich durch die personalen Kontinuitäten auf den Lehrstühlen und beim politischen Personal halten konnte.
Franz Münteferings (SPD), den Apostel Paulus bewusst falsch zitierende Äußerung bezogen auf „Harzt IV“- Empfänger:ingen, wer nicht arbeite, solle auch nicht essen, illustriert dies nachdrücklich. „Ballastexistenzen“ nannten die Psychiater und „Rassehygieniker“ und mit ihnen die Nazis Menschen die nicht in die Formen der „bürgerlichen Gesellschaft“ passten – auf Grund von Handikaps, als „Alleinerziehende“, aus Familien mit transgenerativ weiter gegebener Armutserfahrung, oder anderweitig belastet, stammend. Dieses Menschenbild – und das sollte uns allen klar sein, steht hinter der Sanktionspraxis etwa bei „Hartz IV“-Bezug. Die FDP und Teile der CDU drehen hier den gesellschaftlichen Diskurs nun seit 30 Jahren in eine Richtung, die eindeutig menschenfeindlich ist. Bei der Union sind die „Sozialausschüsse“ in der Bedeutungslosigkeit versunken, SPD und GRÜNE haben – zur Schande dessen, was sich als „linke“ Politik ausgibt – den Mythos vom Primat der Ökonomie längst als Teil ihrer korrumpierten „politischen DNA“ übernommen.
Es folgen, à la longue, nicht nur „abgestimmte“ Versicherungstarife (und ärztliche IGeL-Leistungen für die auf der „Resterampe“). Bildung wird von „Persönlichkeitsentwicklung“ abgekoppelt und dient der Herausbringung der „High-Performer“. Für den nicht vermeidbaren „Rest“ der Gesellschaft gibt es zwei Varianten des „Föderns und Forderns“: Jene, die weitgehend das Tempo nicht mitgehen können, werden in „Hartz IV“ einem suizidfördernden Unterwerfungsregime ausgeliefert. Diejenigen, die sich irgendwie im „Mittelfeld“ zu halten können, wissen um die wirtschaftliche und soziale Vernichtung durch das „Hartz-Regime“ und verzichten derart diszipliniert auf emanzipatorische Forderungen oder gesellschaftliches Engagement – unterwerfen sich letztlich. Das sinnstiftende Narrativ durch „Börse vor Acht“ und andere Formate vermittelt, suggeriert allerdings, man könne immer zu den Gewinnern gehören und es handele sich bei den abbildbaren gesellschaftlichen Phänomenen mittelbar um „Naturkräfte“ – eben die der „Natur der Finanzmärkte“ und nicht etwa um „Klassengegensätze“, die es politisch anzugehen gelte.
Die Jugendhilfe nähert sich unter dem Regiment der „Evaluation von Effektstärken“ wieder dem Gnadenrecht, ähnlich wie in Psychotherapie und Psychosomatik setzt man auf verhaltenstherapeutisch inspirierte Dressurprogramme – jene, die sich hier nicht anpassen können, gelten als „psychiatrische Fälle“, denen nur medikamentös beizukommen ist. Und die Neurobiologie und Neuropsychologie weisen, ähnlich der „Humangenetik“ schon wieder Elemente der alten „Eugenik“ auf.
Die Polizei wird „kaufmännisch geführt“: Die Folgen sind Personalabbau und – der knappen Ressourcen wegen, Aufblähen der Videoüberwachung und der G 10-Anträge – der verantwortungsbewusste Bürger nimmt dies hin, weiß er doch seit Metternich, dass derjenige, der Nichts zu verbergen hat, Nichts zu befürchten habe. Die Verlagerung und Verringerung der Lebensmittelüberwachung wiederum stärkt das Verantwortungsbewusstsein der Unternehmer von „Wilke-Wurst“ bis „Wiesenhof“ und wem die Rente nicht ausreicht, der findet ein Plätzchen in Bulgarien. Letztlich dient die Legende von der „schwäbischen Hausfrau“ dazu, eine „Schuldenbremse“ für verfassungsgerecht zu bewerben, die in der vorgeblichen Sorge um die Rente der Enkel in ferner Zukunft den Tod von Menschen heute in Kauf nehmen lässt – als dem Gemeinwohl dienend.
„Börse vor Acht“ ist nicht der Dreh- und Angel-Punkt der Wirksamkeit der wirtschaftsliberalen Erzählung. An ihrer Vermittlung sind viele Bedingungen und Akteur:innen beteiligt: Es beginnt morgens mit den Rundfunknachrichten – sowohl mit der Auswahl dessen, was berichtenswert erscheint, bis hin zur Ausgestaltung der Meldung selbst, etwa, wenn in letzter Zeit von „Corona-Toten“ die Rede war, obwohl „Covid-19“ in der Regel lediglich ein Faktor in der Leidensgeschichte der akut Verstorbenen darstellte.
Aber auch dies ist nur ein kleiner Baustein in der Rahmenerzählung von der „Alternativlosigkeit“: Wir werden in einem Schulsystem sozialisiert, dass die Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts abbildet und – allen „Bildungsreformen“ zum Trotz – weiterhin Ausschlüsse für Kinder von Arbeiter:innen oder Migrant:innen produziert. Und während wir noch den Kopf schütteln ob der Hartnäckigkeit, mit der „Frauenquoten“ in Wirtschaft und politischen Apparaten abgewehrt werden, entgeht uns faktisch, dass die Diskriminierung und Abwertung sich in den Arbeitsbedingungen und Gehaltsstrukturen der Care-Berufe sehr direkt und brutal zeigt. Vom „Rosa-Überraschungsei“ bis zum „Dieselskandal“: Wir akzeptieren faktisch täglich, dass zwischen den vollmundigen Versprechungen der „Gleichheit“ und der Realität eine große Lücke klafft. Ja, wenn wir uns regelmäßig informieren, wissen wir sogar, dass diese – „Gerechtigkeitslücke“ genannt – immer weiter aufklafft. Aber wir bleiben still.
Wir ähneln darin Kindern, die in den magischen Momenten, die wir alle kennen, etwa glauben, dass unwirtliche, böse Momente – unser Fehler vielleicht – ungeschehen, unsichtbar sein möge. Wenn wir nur gaaaanz fest die Augen schließen!
Und so wie das magische Denken der Kinder, der Glaube an „Weihnachtsmann“ oder „Osterhase“ dadurch aufrechterhalten wird, dass Familienrituale etwa rund um den Weihnachtsabend verlässlichen Mustern folgen, bestärken uns Formate wie „Börse vor Acht“, die Schulbücher, die blaue Kinderkleidung in der Ewigkeit und Unveränderbarkeit dessen, was „gesellschaftliche Wirklichkeit“ scheint – die doch eine „hergestellte Realität“ ist.
Im Grunde vermittelt uns doch die „Corona-Krise“ einen Eindruck davon, dass einfache und klare Antworten und Lösungen oft schlicht nicht vorhanden sind: Das Wissen über das Virus ist relativ gering. Resultierende Handlungsanleitungen beziehen sich daher auf relativ unsichere Modelle, was deren Vorhersagekraft und Lösungsansätze angeht. Das aber ist genau die Grundaufgabe von Modellen: Handlungssicherheit zu vermitteln. Nur das uns – etwa in der Schule, der Psychologie, der Medizin – vorgegaukelt wird, das was da modellhaft beschreibbar ist, sei „Realität“. Aber natürlich bin ich auch subjektiv dankbar, wenn etwa eine mich behandelnde Ärzt:in mir Sicherheit darüber vermittelt, dass sie (innerhalb des Models) eindeutige Handlungen ableitet – und damit mich und sich vergessen lässt, dass etwa die statistische Basis (modern „Evidenz“ geheißen) widersprüchlicher ist, als es meiner momentanen Angst guttäte.
Nun sind solche Entscheidungen die persönliche Eindeutigkeit fordern, zum Glück selten – wir könnten also aus der „Corona-Zeit“ lernen, mit den Widersprüchen in der Welt zu leben – „Ambiguitätstoleranz“ heißt das psychologische Stichwort hierzu. Nachdrücklich gilt also „Krise als Chance“ – sei es bezogen auf die Fähigkeit mit Nicht-Wissen und Widersprüchen zu leben, sei es, weil wir neuerdings kontemplativ Schlange stehen lernen und auf diese Weise neu erfahren, wie „Entschleunigung“ auch sein könnte.
Das Thema „Geld“ wird uns – verbunden mit der Frage nach den politischen Perspektiven weiter beschäftigen. In Zeiten, in denen das „Bruttoinlandsprodukt“ (BIP) Ausdruck für einen gelungenen gesellschaftlichen Zustand gesehen wird und nicht etwa ein Maß wie das „Bruttoglücksprodukt“ als Indikator verwendet wird, kann man mit einem Zitat von D. Adams aus „Per Anhalter durch die Galaxis“ beschließen:
„…Dieser Planet hat – oder besser gesagt, hatte – ein Problem: die meisten seiner Bewohner waren fast immer unglücklich. Zur Lösung dieses Problems wurden viele Vorschläge gemacht, aber die drehten sich meistens um das Hin und Her kleiner bedruckter Papierscheinchen, und das ist einfach drollig, weil es im Großen und Ganzen ja nicht die kleinen bedruckten Papierscheinchen waren, die sich unglücklich fühlten. Und so blieb das Problem bestehen…“
(D. Douglas Adams; Per Anhalter durch die Galaxis, Zweitausendeins, 1981, S.7)
Also: In einem nächsten Schritt wird es also darum gehen, dass „Hin und Her“ um die „bedruckten Papierscheinchen“ weiter zu dekonstruieren und eine neue sinnstiftende Erzählung für eine Gesellschaft „nach Corona“ zu entwerfen – und ein paar Anwendungsideen zu entwickeln.
https://de.wikipedia.org/wiki/Anja_Kohl
https://www.tagesspiegel.de/politik/debatte-um-arbeitslose-kein-recht-auf-faulheit/217442.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Stunde_Null
https://www.bpb.de/apuz/271679/kleine-ereignisgeschichte-der-waehrungsreform-194
https://www.wikiwand.com/de/Deutschland_1945_bis_1949#/Wirtschaft
https://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/fdp/273478/geschichte