„Evangelisch“ und „Jugendhilfe“ – Reisen in ein gewolltes Desaster
Der Film „Easy Rider“ beschreibt eine Pilgerfahrt auf der Suche nach den „Amerikanischen Werten“. Sie endet bekanntlich in einem Blutbad. Die Analogie ist natürlich nicht zufällig gewählt: Betritt man evangelisches Jugendhilfeterrain – hier exemplarisch ein großer diakonischer Träger der „Kirche im Rheinland“ – begibt man sich ebenfalls in eine unübersichtliche Landschaft gezogen von Erwartungen, die oft bitter enttäuscht werden. Und, ähnlich wie im Film, erweisen sich Trägersysteme, Heimleitungen – und in der Akzeptanz ihrer Ohnmacht – auch die Erziehungsverbände, als Bestandteil eines Gewaltsystems. Und so wie die Protangonisten des Films für den „Durchschnittsamerikaner“ ein Ärgernis, eine Störung darstellen, für die Filmfiguren letztlich „Todesurteile“ – erweist sich auch der „evangelische Machtapparat“ als tendenziell tödlich, zumindest krankmachend, etwa für Menschen, die Kinderrechte vor Profit stellen. „…flow river flow…“.
Das Problem besteht, analog zum Film, in der Perspektive des „average American“ wie des „durchschnittlichen evangelischen Verantwortungsträgers“: Sie beruht nicht auf einer irgend gearteten persönlichen Bösartigkeit der Personen, sondern, bewusst und unbewusst spüren diese, dass der Widerspruch der ihnen begegnet – hie die langen Haare und Motorräder, dort das kenntnisreiche Anmahnen von ethisch und / oder rechtlich gebotenen Bedingungen – letztlich einen Angriff auf ihre Lebensperspektive darstellt. In unserem Fall geht es um die Verteidigung persönlicher Privilegien, mehr aber noch um die Immunisierung der Apparate „Diakonie“ oder „Kirche“ gegen Kritik oder Einflussnahme von außen. Darin hat die evangelische Kirche in Deutschland bekanntlich „Übung“ – man denke nur an den unwürdigen Umgang, den viele Angehörige der „bekennenden Kirche“ seitens ihrer „Landeskirchen“ nach dem Krieg erfahren haben, waren diese doch mehrheitlich systemkonform, wenn nicht eindeutig nationalsozialistisch orientiert.
September 2013: Die „Jugend- und Altenhilfereferentin“ des Trägers hat das Team des Psychologischen Fachdienstes einbefohlen, um deutlich zu machen, dass die Jugendhilfe nicht mehr bereit sei, das permanente Insistieren des unabhängigen Psychologischen Instituts bezüglich der Einhaltung der „Spielregeln“ im Kinderschutz, zu akzeptieren. Sie begründet dies damit, dass es für den Träger ein „Dilemma zwischen Kinderschutz und Wirtschaftlichkeit“ gebe. Meinen Hinweis, „Kinderschutz“ sei als „Menschenrecht“ grundgesetzlich geschützt, das „Recht auf ökonomischen Erfolg“ nicht, quittiert sie mit Wut – sicher ein Meilenstein in Richtung auf die anschließenden arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen.
Das „ökonomische Argument“ zieht sich durch viele Diskussionen und Auseinandersetzungen, es ist aus mehreren Gründen verräterisch – ein Beispiel soll dies illustrieren: Besagte Kollegin hat – wie andere auch – das Ergebnis des „Runden Tisch Heimerziehung“ gefeiert. Haben sich die kirchlichen Vertreter*innen doch hier mittels Nötigung (und anderer Bösartigkeiten) dahingehend durchgesetzt, etwa die „Arbeitseinsätze“ der damaligen Insass:innen nicht als „Zwangsarbeit“ bewertet zu wissen. In diesem Fall hätten die Träger Rentenversicherungsbeiträge für diese Arbeitsleistungen nachzahlen müssen. Als „Arbeitseinsätze zur Sicherung des Lebensunterhaltes“ ausgewiesen, sind die Träger formal dieses Problem los. Verschwiegen wird allerdings damals wie heute, dass es eben Aufgabe der Träger wäre, im Rahmen der Subsidiarität kostendeckende Pflegesätze zu verhandeln. Die Beiträge für den Fonds zur Unterstützung der ehemals Betroffenen sind im Übrigen durch die heutigen Einrichtungen im Umlageverfahren finanziert worden – nicht über das Kirchenvermögen.
Womit die „Geschichtlichkeit“, berührt ist, also auch die Frage, worin die Wurzeln der heutigen Strukturen zu suchen sind. Wahrscheinlich darin, dass die Hauptsorge des heutigen Trägers auf der hoch defizitären Altenhilfe liegt. Aber auch darin, dass die Einrichtungen der Jugendhilfe an ihrem Hauptort eine lange Unrechtsgeschichte haben: 1936 von einer Düsseldorfer Diakonisse als Einrichtungsleitung übernommen, waren sie, dem Vernehmen nach, für einige Kinder ein „Vorhof zur Hölle“, so sollen Kinder in die Tötungsanstalten überstellt worden sein. Die Zwangssterilisation von 1200 jungen Frauen zumindest ist dokumentiert, mehr Unrecht nicht, da die Dame bis 1956 Zeit hatte, die Akten zu säubern. Ob ihr Nachfolger, ein Arzt, sich und die Einrichtung an den mittlerweile skandalisierten Arzneimittelexperimenten beteiligt hat, ist derzeit nicht klar. Der Träger selbst ist erst nach dem Krieg gegründet, hat also die „Altlasten“ aus der NS-Zeit „geerbt“. Aber es gibt ein evidentes Desinteresse daran nachzuverfolgen, welche Strukturen sich einrichtungsintern bis heute gehalten haben – etwa, warum etwa die Wohngruppen und pädagogischen Leitungen sich wie in einer „Wagenburg“ sitzend, gegen jeden Versuch wehren, Strukturen zu durchleuchten und zu verändern.
So scheint es, als werde der Verstoß gegen Kinderrechte heute nicht mehr „rassistisch“ legitimiert, sondern ökonomisch. Tötungsdelikte unterbleiben natürlich – der „Wert“ oder „Unwert“ von Menschen aber bemisst sich in Pflegesätzen, der Gewinnorientierung kirchlicher Träger – und der Weigerung, die Orientierung am Kindeswohl zum Maßstab für eigenes Handeln und Verhandlungen mit der öffentlichen Hand zu machen.
Warum dieser Text heute, 2020? Weil nach langen und harten Konflikten die Jugendhilfeleitungen durchgesetzt haben, den Psychologischen Fachdienst zum 01.10. 2020 aufzulösen. Die Kolleg:innen sind in Zukunft der Pädagogik in „Linie“ dienstrechtlich unterstellt. Die mahnende Stimme der Psycholog*innen – als eigenständiges Institut des nämlichen Trägers eigentlich ja von jeher schon daran gehindert – den rechtlichen Folgen des „Whistleblowing“ in Deutschland eingedenk – Missstände öffentlich zu machen, wird nun ganz zum Schweigen gebracht.
Das „Zentrum für lebenslanges Lernen“, gegründet als Zusammenschluß der verschiedenen heimpsychologischen Fachdienste und Ausbildungsinstitut, ist seit 2011 „gefleddert“ worden. Hierzu wurden Absprachen gebrochen, schlicht gelogen, Menschen vertrieben – ein Torso ist geblieben. Die Psycholog*innen sitzen wieder vereinzelt, dienstrechtlich den pädagogischen Leitungen unterstellt.
“Rest in Peace“: Es war ein harter Kampf, wir haben ihn verloren.
„…it flows to the see,
Wherever this river flows,
That´s where I wonna be,
Flow river flow…“
Roger McGuinn, „The Byrds“ (1969)