Zahlenspiele

Pressekonferenzen des „Robert-Koch-Institutes“ haben auf mich eine grauenhafte Wirkung: Die materiellen Zahlen zur Ver- und Ausbreitung der „Covid-19“- Pandemie, zu den Betroffenen, den Toten, machen mich klein und ängstlich. Ähnlich geht es mir bei der Beschäftigung mit den diversen Nachrichtekanälen, gleich, ob sin um abonnierte, etwa auch französisch-, englischsprachige oder die „Tagesschau“ handelt. Aus dieser Ängstlichkeit heraus scheinen die dann vorgetragenen Maßnahmen zur Eindämmung dieses Ausbreitungsgeschehens logisch und angemessen. So folgerichtig, dass ich die damit verbundenen Einschränkungen, etwa die Beschränkung meiner Bürgerrechte, gutzuheißen oder zumindest hinzunehmen bereit bin. Erst ein kleiner Abstand, ein Innehalten – zu welchem ich mich jetzt geradezu zwingen muss – erlauben es mir, zum einen etwas distanzierter mit dem umzugehen, was mir, uns, an Zahlen präsentiert wird und zum zweiten: auch das Gefühl zu entwickeln, dass diese Zahlenkaskaden nicht nur etwas Einschüchterndes haben, sondern eben auch einschüchtern sollen. Der bedrückendste Topos hierbei ist der Begriff der „Coronatoten“:

Niemand von uns möchte, ganz gleich ob persönlich oder mittelbar, verantwortlich für den Tod Anderer sein. Auch nicht durch Unterlassen von Vorsichtsmaßnahmen. Für mich gilt in Zeiten wie diesen, als Teil dessen, was aus Alters- und Gesundheitsgründen „Hochrisikogruppe“ genannt wird, auch ein hohes „Passivrisiko“ durch Ansteckung durch andere, was ich letztlich nur durch entsprechendes Verhalten zu steuern versuchen kann. Also: Niemand möchte für den Tod von Mitmenschen verantwortlich sein, dafür nehmen wir die skizzierten Einschränkungen in der Regel in Kauf. Nur – etwas besonnener gefragt – was sind das für tote Menschen, die, um ein Beispiel zu nennen, in Bergamo mit Militärlastern aus der Stadt gefahren werden? Haben wir es tatsächlich mit einer Analogie zur „Pest“ zu tun, was die Kommentare über das einsame Sterben in den Institutionen oder zuhause suggerieren?

Bernd Hontschick hat in seiner Kolumne in der „Frankfurter Rundschau“ vom 21.03.2020 (s.u.) einige Zahlen zitiert. So gibt er die tägliche durchschnittliche Todesrate in Deutschland mit 2500 Fällen an. D.h., so viele Menschen sterben täglich an den Folgen von Erkrankungen, im Alter, an Unfällen, Folgen von Gewaltverbrechen – einige auch an Infektionen, die zumindest todesbegünstigend sind, manchmal auch todesursächlich, etwa wenn ein vorbelastetes Immunsystem mit dieser zusätzlichen Belastung der Infektion nicht mehr zu Rande kommt. An dieser Stelle spielen die jährlichen Grippewellen eine Rolle, viel mehr noch aber die 30.000 Menschen, die sich jährlich in deutschen Krankenhäusern infizieren. Wenn also heute etwa von 100 „Coronatoten“ die Rede ist, meint dies, vorbehaltlich dessen, dass Obduktionen nicht andere Ergebnisse zeitigen würden, dass 99 dieser Menschen ohne Zutun einer „Coronainfektion“ gestorben wären, einer dieser Menschen hätte ohne diese Belastung überlebt. Wobei bei auch bei den jüngeren Verstorbene, soweit die Obduktionsergebnisse kommuniziert wurden, gravierende, aber bis zu diesem Zeitpunkt unentdeckte Krankheiten festgestellt wurden. Warum verzichtet das „Robert-Koch-Institut“, verzichten die Medien auf diese Klarstellung?

Überhaupt: Wenn die so genannten „nosokomialen“ Infektionen, also solche, die während der Behandlung im Krankenhaus, etwa durch Hygienemängel, entstehen eine derart hohe Sterblichkeit nach sich ziehen: Wie konnte es zu diesen Zuständen – die letztlich höhere Todesraten als „Covid-19“ nach sich ziehen – kommen und warum stellt sich das Gesundheitssystem nicht entschieden dagegen? Einfach nur „zweierlei Maß“?

Datenerhebung

Auch andere Zahlenkolonnen werfen Fragen auf: Wenn Zahlen über die Ausbreitung referiert werden, auf welche Bevölkerungsstrukturen und-bedingungen beziehen sich diese? Also: Wer wird wann und wie getestet? Wenn etwa jede Person auf der Straße getestet wird, habe ich eine hohe Wahrscheinlichkeit, viele „Fälle“ zu identifizieren – was aber über die Krankheitsverläufe und die Sterblichkeit überhaupt Nichts aussagt. Wenn ich alle Menschen teste, die im Gesundheitssystem versorgt werden müssen, besonders dann, wenn ich vorzugsweise in Krankenhäusern und Alteneinrichtungen teste, habe ich ebenfalls hohe Durchdringungsraten und, der Vorbelastungen der betreffenden Personen wegen, auch hohe Mortalitätsraten – wobei für diese dann das Virus aber letztlich meist nicht letztursächlich ist. Statistische Verzerrungen ergeben sich auch daraus, dass die Infektionsraten in dichtbesiedelten Stadtteilen und Landstrichen, in Abhängigkeit und Armut und Hunger und damit auch in direktem Zusammenhang mit Ressourcen und Kapital unterschiedlich aussehen. Hier werden also im Extrem „Hungertode“ durch den Begriff der „Coronatoten“ kaschiert. All diese Erläuterungen gehören aus meiner Sicht dazu, wenn man „mit Zahlen Politik“ macht.

Und an dieser Stelle noch ein letztes Moment: Wenn davon gesprochen wird, „von Gestern bis Heute“ seien die Erkrankungszahlen um soundso viele Betroffene gestiegen, ist das „Augenwischerei“. Es müsste korrekt heißen: Wir haben im Zeitraum XY eine Zunahme als „positiv“ getesteter Personen gehabt – über deren Gesundheitszustand wir aber mit diesen Zahlen Nichts sagen können – wir spüren alle, dass dies den Nachrichtenwert deutlich schrumpfen lassen würde.

Eine letzte Bemerkung noch zu den „Zahlenspielen“: Die Zahlen von heute, sind die erfassten Personen von vor- oder vorvorgestern. Wir reden also über nachlaufende Summationen. Unter den oben beschriebenen Konditionen ist es sehr wahrscheinlich, dass die „aktuellen“ Zahlen das tatsächliche Ausbreitungsgeschehen „verzerrt“ abbilden: Im günstigsten Fall scheinen, auch der relativ langen Inkubationszeit wegen, die Zahl der „positiv Identifizierten“ zu steigen, der tatsächliche Peak ist aber erreicht und der Trend geht nach unten. Denkbar natürlich auch, dass selbst bei ausreichenden Verhaltensvorschriften sich dies erst mit einer entsprechenden Latenz von mindestens einer Woche abbildet. Suggeriert wird aber ein Handlungsdruck, der sich aus der „Aktualität“ der vorgestellten Ergebnisse ergebe. Dies ist pure Angstmacherei und Menschen wie Markus Söder müssen sich unterstellen lassen, dass sie tatsächlich andere Motive haben, aus denen sie den starken Ordnungsstaat puschen. Ein Schelm, wer hier nicht an das Rennen um die Kanzler:innenkandidatur bei den Unionsparteien oder Schlimmeres denkt.

Kalte Panik

Lassen wir einmal krude Verschwörungstheorien beiseite, bleibt dennoch die Frage, weshalb die Stimmen, die ähnlich oben Gesagtem argumentieren, so wenig gehört werden. Weshalb ermöglicht es die „Corona-Panik“ – neben „Hamsterkäufen“ der Einschränkungen von Freiheitsrechten – nun plötzlich das bis gestern noch als nicht hinterfragbare Mantra der „Schwarzen Null“ aufzugeben? Menschen, die dies mit der Notwendigkeit von Investitionen in öffentliche Infrastruktur gefordert hatten, die die Weisheit der Entschlüsse, diesem Credo Verfassungsrang zu zugestehen bezweifelt haben, galten gestern noch als „sozialistische Spinner“, die sich an der Zukunft der Kinder vergehen wollten. Noch schlimmer jene, die über gesetzliche Regulationen für den Wohnungsmarkt oder (Teil-)Verstaatlichung  von Unternehmen nachgedacht haben – heute geht dies Alles in unglaublicher Geschwindigkeit!

Natürlich stellt dieser neue Virus uns, die Gesellschaft, die Medizin im Besonderen vor neue Herausforderungen. Dies wird im Übrigen auf künftig gelten: Nicht umsonst hat die WHO vor Jahren schon entsprechende Pandemie-Strategien vorgegeben. Die Besiedelungsdichte in den Ballungsräumen und „Mega-Städten“ begünstigt die explosionsartige Ausbreitung, Hunger und Armut und zurückgehende öffentliche Versorgungsmöglichkeiten bilden weitere Nährböden. Die ausufernde Nahrungsmittelproduktion wird immer wieder Übergänge von Erregern zwischen Mensch und Tier mit sich bringen. Und dennoch hat, insbesondere wenn man den „politischen Raum“ auch als „symbolischen Raum“ betrachtet, die gesellschaftliche Reaktion auf „Covid-19“ eine „Mehrbedeutung“, die ich zumindest andiskutieren möchte:

In der letzten Woche las ich bei anderen Autor:innen den Begriff der „kalten Panik“. Dieser bezieht sich auf den gesellschaftlichen „Normalzustand“ der letzten Jahre: Wir wissen um die drohende Klimakatastrophe, die durch Hunger und Krieg verursachten Migrationsbewegungen und nehmen mit dem selben scheinbaren Gleichmut die ständig weiter aufklaffenden gesellschaftlichen Ungleichheiten hin. Wir sind, oben wurde es erwähnt, sogar bereit, den Ausverkauf von Gesundheitsdienstleistungen, unserer Krankenhäuser, an Aktiengesellschaften in Kauf zu nehmen, selbst wenn die Nachteile für unsere Versorgung gravierend sein könnten. Wir scheinen all dies nicht zur Kenntnis zu nehmen und statt uns an einem, möglicherweise auch intellektuell unterdurchschnittlich begabtem Verkehrsminister abzuarbeiten, gilt dieser Aufwand einer 16jährigen: Greta Thunberg.

„Kalte Panik“ meint einen Zustand, in dem dieses Wissen vorbewusst gesellschaftlich vorhanden ist, aber die Schwelle des Bewusstwerdens nicht überschritten werden darf, weil die Angst vor dem, was dann folgen würde als unbezwingbar scheint – unser gewohntes Leben wäre in Frage gestellt. Hieraus resultiert ein Spannungszustand, der auch dadurch bestimmt wird, dass der öffentliche Raum, die Nachrichten – alle relevanten Informationen dahingehend „gescannt“ werden müssen, ob sie geeignet sind, die kollektive Wahrnehmungsabwehr in Frage zu stellen oder zu durchbrechen. Für diesen Fall folgen entsprechende Abwehroperationen. Die können, wie wir gesehen haben, so stark sein, dass eine studierte Physikerin und ehemalige Umweltministerin ein dysfunktionales „Klimapaket“ als Meisterleistung und- wahrheitswidrig – als konform mit internationalen Konventionen anpreist. Wenn FFF, die „Gallionsfigur Greta“ also formulieren: I want You to panic“, dann zielt genau dies auf die fragile Abwehr und setzt entsprechende Abwehrdynamiken frei, die dann darauf zielen, diese Inhalte und Forderungen der Lächerlichkeit preiszugeben – oder zu vertagen.

Das Virus hingegen „knallt“! Es meint mich, Dich, uns, meine Großeltern, Kinder und Enkel! Es berührt meinen Abstand und die unmittelbare auch körperliche Kooperation mit anderen! Es ist unsichtbar, unmittelbar und unabweisbar! Der Pandemie, der eigenen Betroffenheit gegenüber nutzen die eingeübten ritualisierten Muster nicht mehr – sie durchbrechen zunächst den Schirm der individuellen wie kollektiven Abwehr und setzen neue Mechanismen in Kraft, die der Angstbewältigung dienen. Neben der Sinnfälligkeit vieler Maßnahmen, die wie Eingriffe in das Mietrecht, Aussetzung der Bedürftigkeitsprüfung bei „Hartz IV“-Anträgen, Kostenfreiheit in Teilen des ÖPNV – die schon immer sinnvoll gewesen wären, zeichnen sich die Abwehroperationen dadurch aus, dass sie überzogen und letztlich nicht rational begründbar sind – dies wird über die „Zahlenspiel“ und Interpretationen der Daten deutlich.

Auf einer symbolhaften Ebene könnte man, dem Vorbild des Pontius Pilatus folgend, auch vermuten, dass das empfohlene Händewaschen neben der hygienischen auch eine psychodynamische Regulationskomponente im Sinne der Schuldabwehr enthält. Es wäre spannend sich anzuschauen, wie das Horten von Klopapier in diesem Sinne zu bewerten sind.

Was bleibt? Auf jeden Fall die Erkenntnis, wieviel sich gesellschaftlich an den Rahmenbedingungen des Wirtschaftens und es Zusammenlebens bewegen lässt, wenn der politische Wille da ist. Inzwischen braucht es, wie ich meine, Zwischenrufe wie diesen hier, um die Proportionen zu beschreiben, Momente des Nachdenkens, des Aussteigens aus dem sich verdichtenden öffentlichen Diskursrahmen möglich zu machen.

Nehmen wir also den Beweis, dass zum Beispiel die „Schwarze Null“ kein Leitmotiv mehr sein kann mit in die politischen Entwürfe und Forderungen in der Zeit „nach Corona“ und vor dem nächsten Angstereignis.

https://www.fr.de/panorama/coronavirus-gesundheitsdiktatur-kolumne-13607799.html

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